Schnell setzt sich die persönliche Assoziationskette in Bewegung: „Flüchtlinge, Flüchtlingsboote, Flüchtlingskrise, Seewege, Politik. Was tun.“
Doch in der Unterhaltung mit dem Künstler stellen wir fest: So einfach ist es nicht.
Die fotografischen Motive sind Filmstills, die aus kurzen Internetbeiträgen stammen. "Ich habe die schlechte Bildqualität und den jeweiligen Zeitpunkt des Einfrierens bewusst gewählt, um eine gewisse Voreingenommenheit beim Betrachter zu provozieren.
Die Sehgewohnheiten sollen auf die Probe gestellt werden", erklärt Severin Humboldt.
Und das gelingt, denn haben wir uns bereits wenige Augenblicke zuvor dabei erwischt, wie wir uns aus dem medial aufgeladenen, subjektiven Bildoeuvre unseres eigenen Geistes bedienten. Die Arbeit weist dem Betrachter seine eigenen Fesseln auf und spielt damit. Unfreiheit, Diversität und Beliebigkeit in der Betrachtung werden deutlich. Interessant, wie Severin Humboldt diese Aspekte in der Betitelung seiner Arbeiten mit aufgreift.
Spannend auch die Auseinandersetzung mit der Fotografie. In den hier gezeigten Arbeiten wird der klassische Umgang mit dem Medium ausgeschlossen. Der bewusste Verzicht auf den Gebrauch des Fotoapparates betont die eindringliche Vielseitigkeit des Abbildes, welches uns ständig begegnet. Auch während des "Nichts-Sehens". Der erstarrte Moment, der aus einem zusammenhängenden Film, mit einer bestimmten und fortwährenden Dauer montiert wurde und so einen neuen Kontext formt, steht exemplarisch für Sehen und Nicht-Sehen. "Spannend ist für mich die indirekte Zusammenarbeit mit dem Aspekt der Zeit. Die Bilder könnten auch Schnappschüsse sein, obschon das Thema Zeit dabei eher übergeordnet entscheidend ist. Im Bezug auf Entwicklung, Rückkopplung oder vielleicht auch Stagnation." Humboldt setzt auf diese Weise seine Arbeiten in den direkten Bezug mit dem Betrachter und seiner Umwelt. "Natürlich können Bezüge zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situationen nicht ausgeschlossen werden, aber sie werden eben erst durch den Rezipienten provoziert."
Widmen wir uns nun der bisher außen vor gelassenen
Flagge (2015, Polyester, 150 x 250 cm), liegt eine Vermutung nahe, die im Gespräch bestätigt wird: das Motiv ist frei erfunden. "Die Gestaltung der Flagge orientiert sich an einem klassischen Aufbau von Landesflaggen. Fast alle dieser Flaggen sind rechteckig, mit Ausnahmen die der Schweiz, des Vatikanstaates und Nepals. Meist symbolisieren Farbflächen die Charakteristika des jeweiligen Staates oder nehmen Bezug auf dessen politische Entstehung oder deren geografischer Lage. Viele Landesflaggen sind symmetrisch aufgebaut und zieren sich mit einem Wappen oder Symbol in ihrem Zentrum, welches meist einen religiösen Bezug demonstriert." Severin Humboldt wollte „eine Fahne kreieren, die diese standardisierten Gestaltungsmerkmale benutzt und für die Erde und all ihre Bewohner steht."
Eine Fahne, die bemüht ist, schier alle Grenzen aufzuheben, aber aufgrund ihrer Geschichte zuerst den gegenteiligen Kontext hervorruft und durch Humboldts konventionelle Installation provoziert, benötigt den Dialog mit dem Betrachter. Erst durch den Rezipienten erlangt das Kunstwerk an Mehrdeutigkeit, verlangt vielfältigeres Sehen und eine kritische Befragung der eigenen Sehgewohnheiten.
Eine Arbeit, die nicht nur schön anzusehen ist, sondern darüber hinaus den Betrachter auffordert, sich und seine Umwelt in Frage zu stellen, um mehrere Blickwinkel zu erlangen, die Grenzen und Begriffe zu befreien vermögen.
Rechts von Humboldts Flagge geht es klassischer zu. Zwei großformatige Leinwände (130 x 160 cm)
Ohne Titel zieren als Paar das Ende der Wand. Beide Arbeiten bilden in Ihrer getrennt voneinander angebrachten Hängung eine Einheit.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befindet sich, zwischen anderen studentischen Arbeiten, eine weitere Leinwand (
Ohne Titel, 2015, Malerei auf Leinwand, 115 x 150 cm). Sie kann eindeutig dem Kontext von Lukas Schmidts Arbeiten zugeordnet werden, obschon es sich durch seine einzelne Anbringung abgrenzt. Erdtöne sowie Violett, Grau und Weiß dominieren die abstrakte Fläche. Die Farbgebung ist sehr harmonisch. Das in Grau-, Weiß- und Blautönen gehaltene Paar hingegen wirkt gebrochener, in seiner Harmonie gestört.
Man ist angehalten eine Stringenz in der Farb-und Formgebung zu entdecken, doch stellt man im weiteren Verlauf der Betrachtung fest, dass dies nur dem Zufall zugeschrieben werden kann, oder besser: dem vom Künstler provozierten Zufall. Acryllack wird mittels diverser Sprühsysteme, wie z.B. der Spritzflasche, auf die zuvor unbehandelte Leinwand aufgetragen und nach kurzer Trocknung bei 60 C°. in der Waschmaschine gewaschen. Die Größe des Nesselstoffes, der Farbverlauf und die Intensität sind somit in ihrem Ergebnis variabel. "Mich interessiert diese gewisse Unart-Ästhetik, die man auf der Straße nahezu tagtäglich entdecken kann. Verblasste und verschmierte Häuserwände, denen bei genauerer Betrachtung eine ganz spezielle Ästhetik innewohnt. Von vielen als Verschmutzung betrachtet, versuche ich genau dadurch im Widerspruch die Schönheit zu finden und neu umzusetzen", meint Schmidt dazu.
Trotz der sanften aquarellartigen Übergange, die sich im Bild erkennen lassen, stellt man fest, dass diese beschauliche Sanftheit diskret gestört wird. Die Zartheit erlangt einen derben und starken Charakter, der sich dem Betrachter aber nicht aufdrängt. Schmidt erzählt uns, dass die Idee zu den Bildern bei der Betrachtung eines Aquarells aus seiner Kindheit entstand. Es faszinierte ihn, wie das Bild, welches nur aus wenigen Farben bestand, eine für ihn bewegende Kleinteiligkeit und Tiefe erlangen konnte. "Über diesen Gedanken bin ich auch auf die Technik der Waschungen gekommen. Mich interessierte die Frage, wie ich Multidimensionalität und weiche, aquarellartige Übergänge erzeugen kann, die ihren Ursprung wiederum im Alltag, im Groben und Einfachen haben, um meine Bezüge zu den Subkulturen Graffiti und Skateboarding wieder aufzugreifen."
Sucht man sich einen kleinen Bildausschnitt, findet man eine lebendige Diversität im Mikrokosmos aus Farbe und Form. Tritt man weiter weg, bilden Wand und Bild eine harmonische Fläche.