Über die Vergänglichkeit und das Verweilen: Streetart in Florenz

In der Geburtsstadt der Renaissance gibt es nicht nur bekannte Meisterwerke, sondern auch viel Straßenkunst zu entdecken.
Florenz gilt als die Geburtsstadt der Renaissance. Es gibt noch heute viele Bauwerke, begonnen mit der großen Domkuppel des Architekten Brunelleschi, die das kulturelle Erbe der Stadt bezeugen. Auf den Straßen hört man unzählige verschiedene Sprachen und vor den touristischen Attraktionen wie den Uffizien oder der Galleria dell’Accademia stehen die Menschen aus aller Welt im Sommer stundenlang an, um wenigstens einen kurzen Blick auf die sagenumwobene Venus von Botticelli oder Michelangelos David werfen zu können.

Weit weniger Aufmerksamkeit erhält dagegen eine andere Venus, die sich auf der Piazza degli Antinori an einen Elektrokasten auf Kniehöhe befindet. Sie trägt ein bäuerliches Kleid und eine Taucherbrille, ist ansonsten aber eine genaue Kopie Botticellis Venus. Ihr Schöpfer, der Straßenkünstler Blub, ist nur einer von Vielen, die in Florenz nachts ungesehen ihre Chance nutzen, um ihre Kunstwerke in der ganzen Stadt zu verteilen. Mit ihrer Kunst möchten sie ein breites Publikum ansprechen, Interesse wecken und zum Nachdenken anregen. Der kommunikative Akt mit dem zufälligen Entdecker der Streetart steht im Vordergrund und die Florentiner Gassen mit ihrer Vielzahl von Künstlern und Stilen werden zu einem großen Museum unter freien Himmel.
Blub hat schon einige Porträts der Venus und andere ikonographische Renaissance-Werke sowie bekannte Persönlichkeiten Italiens und des Humanismus in Florenz auf Gas- und Elektrokästen in den Hauswänden mit kleinen quadratischen Plakaten angebracht. Allen gezeigten Personen steht das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Doch der Künstler hat ihnen Taucherbrillen gegeben und sie damit ihrem neuen Umfeld angepasst. „L’arte sa nuotare“ (Die Kunst kann schwimmen), so heißt die Streetart-Kampagne des Künstlers, der die historischen Figuren aus dem Museum auf die Straße und damit in das alltägliche Treiben der historischen Stadt holt. Warum jedoch sind die Renaissance-Gemälde abgetaucht? Blub sieht die Kunst und Kultur in der heutigen Zeit gefährdet, eine Befürchtung, die bizarrer Weise gerade in Florenz Berechtigung finden mag. Wie viele der Besucher, die sich für die Uffizien anstellten, haben die Venus dann auch wirklich betrachtet, als sie endlich vor ihr standen und nicht einfach als Andenken für Zuhause schnell ein Foto gemacht, um dann direkt weiterzugehen? Im Zeitalter des Massentourismus bleibt wenig Zeit zum Verweilen.

Den Entdeckergeist möchte auch der französische Maler und Bildhauer Clet Abraham, kurz CLET, ansprechen, der Florenz 2005 zu seiner Wahlheimat gemacht hat. Seitdem verändert er die Straßenschilder der Stadt und macht sie zu seinen Kunstwerken. Straßenschilder sind ein fester Bestandteil unserer heutigen Welt, die eine universell wiedererkennbare Form haben und einen Kontrast zu der historischen Architektur der Stadt darstellen. Mithilfe von Vinyl-Aufklebern verändert der Künstler die Schilder und spielt mit ihrer graphischen und symbolischen Wirkung. Besonders gerne transformiert er die ‚Einfahrt Verboten’ Schilder. Er setzt sie in Brand, lässt den weißen Balken, der die Funktion der Begrenzung unterstreicht, von David persönlich wegtragen oder zeigt einen Carabinieri, der selbigen Balken und das damit verbundene Verbot liebt und seine Zuneigung mit Küssen zum Ausdruck bringt.

Das Hinweisschild ‚Sackgasse’ wird dagegen bei CLET zu einem T-Kreuz umfunktioniert, an dem eine Figur gekreuzigt ist. Das Straßenschild als universelles Symbol, verwandelt sich auf diese Art und Weise zu einem ikonographischen Typus des gekreuzigten Christus’, dessen Form und Symbolik in der westlichen Welt ebenso schnell erkannt werden, wie die Bedeutung des Straßenschildes.
Alle Straßenschilder sind durch die minimalen Veränderungen des Künstlers weiterhin in ihrer ursprünglichen Funktion erkennbar und werden zu einem mehrdeutigen Objekt im Stadtraum. Für den Autofahrer fungieren sie weiterhin als implizite Verkehrsregel, die eingehalten werden sollte. Der Passant hingegen kann das Straßenschild als Kunstwerk entdecken, das eine gewisse Kritik an der Regelkonformität unserer heutigen Gesellschaft ausdrückt.

Ebenfalls vielfach in Florenz zu finden, sind Werke des anonymen Künstlers K. Dieser malt kleine schwarze Strichmännchen auf die Wände, die steht’s in Bewegung zu sein scheinen und ihre eigenen Geschichten erzählen. Mal fliegen sie mit einem Strauß Luftballons davon, ein anderes Mal findet eines von ihnen eine rote Blume. Die Zeichnungen werden kombiniert mit klaren Botschaften auf Englisch, wie ‚safe’ oder ‚fly away’. Der Passant soll die Bewegung der Zeichnung weiterdenken und sich durch die Streetart für kurze Zeit aus seiner jetzigen Alltagssituation herauslösen. K. motiviert zum Tagträumen. Sein Projektname EXIT ENTER, die beiden meistbenutzen Wörter neben seinen Zeichnungen, verweisen auf das Verlassen der einen Realität und gleichzeitige Eintreten in eine andere. Die Tagträume von K. zeigen dabei nicht ausschließlich das Bedürfnis zu Bewahren oder das unbestimmte Gefühl einfach fortliegen zu wollen, sie verweisen ebenfalls auf aktuelle politische Themen. An einer Wand auf der Via della Rosa ist ein Boot mit fünf Menschen zu sehen. Der Vorderste streckt den Arm nach dem sehr weit entfernt stehenden roten Wort EXIT aus, während man am anderen Ende der Wand drei Kampfflieger erkennt. Die Zeichnung lässt unweigerlich an die Menschen denken, die derzeit in Booten über das Mittelmeer fliehen, in der Hoffnung einen Ausweg aus Krieg und Armut zu finden.
Blub, CLET und K. sind drei mittlerweile bekannte Straßenkünstler, deren Kunst zum Stadtbild gehört. Ihr Ruf hat sich, durch die modernen Medien gefördert, inzwischen etabliert und über die Stadtgrenzen hinaus verbreitet. Andere Straßenkünstler dagegen warten noch auf diese mediale und städtische Anerkennung. In den letzten Wochen taucht immer häufiger der Künstler Divina Testa in Florenz auf. Er ist offenbar noch auf der Suche nach einem Markenzeichen und einem bestimmten Stil, arbeitet mal mit Plakaten, dann wieder mit Graffiti oder Filzstiften. Manchmal klebt er gezeichnete, abgetrennte Körperteile auf die Wände, immer öfter ist aber eine Art Fantasiegesicht zu finden, dessen abstrahierte Form teilweise aus geometrischen Formen und verschiedenen Mustern besteht. Den gleichen Namen wie der Künstler trägt umgangssprachlich auch eine Zeichnung von Michelangelo, die ein Frau im Seitenprofil zeigt und sich im British Museum in London befindet. Obwohl der abstrahierte und mechanisch wirkende Kopf von Divina Testa keine Ähnlichkeit mit Michelangelos Zeichnung zeigt, so scheint der Künstler dennoch wie Blub und ab und zu auch CLET auf die kunsthistorischen Wurzeln der Renaissance zu setzen, bei seinem Versuch, sich in Florenz einen Namen zu machen.

Während die Renaissance-Meisterwerke durch Absperrungen und Panzerglas gesichert und konserviert werden und ihre kulturelle Bedeutung in kunstwissenschaftliche Formeln eingeschrieben ist, zeigen die florentinischen Straßen ein anderes Bild. Die Streetart-Werke sind weniger behütet und halten den Wettereinflüssen nicht dauerhaft stand, werden übermalt oder zerstört. Sowohl Blub wie auch CLET planen den Verfall ihrer Werke von vornherein mit ein, indem sie Materialien benutzen, die wieder entfernbar sind. Streetart lebt vom Augenblick. Sie ist vergänglich und gleichzeitig aktuell. Was heute noch auf einer Stadtwand war, kann morgen schon verschwunden sein. Diese Vergänglichkeit macht die Streetart zu etwas Kostbarem und Lebendigem, dass immer wieder aufs Neue entdeckt werden kann und uns über unsere Gegenwart reflektieren lässt. Über Nacht sind wieder ein paar neue Kunstwerke in den Gassen von Florenz aufgetaucht. Wer sie wohl zuerst entdeckt?