Zwischen Kunst und Kommerz: Plakatkunst des 20. Jahrhunderts

Hingeschaut! Sie sind immer da, ob beim Einkaufen, Bahnfahren oder in der Schlange vorm Café: Plakate prägen unser Stadtbild und buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Mit grellen Farben und großen Schriftzügen bewerben sie die unterschiedlichsten Produkte, Events und Konzerte. Nach-dem Kunst im vergangenen Jahr vor allem digital vermittelt wurde, locken Plakate nun auch wieder Kunstinteressierte in die Museen und Galerien. Das Ausstellungsplakat bildet so den ersten Be-rührungspunkt zwischen Kunst und Betrachter*in. Dieser Schnittstelle von Kunstwerk und Wer-bung widmete sich das Pablo Picasso Museum Münster in der Ausstellung „Die Galerie der Stra-ße. Plakatkunst von Picasso zu Pollock“ und beleuchtete die außergewöhnliche Rolle des Ausstel-lungsplakats in der Kunst. Circa 100 Werke aus der Sammlung KÖNA reichten von Künstler*innen der Modernen École de Paris bis hin zur Neuen Amerikanischen Malerei, sie erzählten die Rezep-tionsgeschichte der Akteur*innen und ermöglichten eine unkonventionelle Perspektive auf die Kunst der 1940er bis 1990er Jahre, ohne dabei an Modernität eingebüßt zu haben.
Üblicherweise finden sich Ausstellungsplakate im öffentlichen Raum, wo sie möglichst viele Men-schen erreichen und Aufmerksamkeit erregen können. Dort konkurrieren die Plakate miteinander, im Vorbeigehen können nur einige wenige Informationen aufgenommen werden. Ein Werbeplakat muss also eine Funktion erfüllen, es muss ein größerer Hingucker sein, als das, was links und rechts davon an Litfaßsäulen und Unterführungswänden plakatiert ist. In den Ausstellungsräumen in Münster wurde es aus diesem ursprünglichen Kontext gerissen. Die Plakate wurden gerahmt, mit genügend Abstand voneinander vor einer weißen Wand gezeigt. Jedes Werk stand für sich allein und die Besucher*innen hatten die Möglichkeit, es als solches Einzelwerk zu betrachten. Aber macht das überhaupt Sinn? Die Daten auf den Plakaten sind zum Teil über hundert Jahre her, die Plakate bewerben heute nichts mehr. Trotzdem wurde schnell deutlich, welche Kriterien erfüllt werden müssen, um optisch aus einem schieren Meer aus Werbung herauszustechen. Be-ginnend mit Henri de Toulouse-Lautrecs ikonischen Werbebildern für das Pariser Moulin Rouge bis hin zu Keith Harings von der Street-Art inspirierten Postern ähnelten sich die Exponate in einigen Stilelementen. Auch in den Museumsräumen forderten die Exponate durch leuchtende Farbflä-chen und eingängige Formen die Aufmerksamkeit aller ein, die den Raum betraten. Die Ausstel-lung vereinte so die „Aushängeschilder“ der Künstler*innen, die Werke also, die bei ihren Zeitge-noss*innen den größten Wiedererkennungswert hatten. Wem das Bild auf dem Ausstellungsplakat bekannt vorkommt, der lässt sich vielleicht auch als Kunstmuffel eher ins Museum locken. Für die Pariser Kunstszene der 60er-Jahre scheint man diesen Trick auch umgekehrt genutzt zu haben: Für eine Ausstellung der Neuen Amerikanischen Malerei um Jackson Pollock warb das Musée National d’Art Moderne mit einem Werk, das weitaus weniger abstrakt ist als die Action Paintings, für die er bis heute bekannt ist. Womöglich um die kunstinteressierten Europäer*innen vorsichtig mit dem expressionistischen Œuvre des Künstlers vertraut zu machen? Die Werke, die auf den Ausstellungsplakaten abgebildet sind, werden von den Galerien in einen Rahmen gesetzt. Im übertragenen, wie im wörtlichen Sinne. Das Beispiel Pollock zeigt, welche Macht die Galerien in der Darstellung der ausgestellten Künstler*innen innehaben. In den meisten Fällen liegt jedoch die Schwierigkeit darin, den Stil dieser oft schon bekannten Personen in einem Bild zu erfassen. Dafür braucht es Geschick und eine gute Kenntnis der ausgestellten Kunstschaffenden.
Obwohl die Ausstellungsplakate in Münster gerahmt und mit Label an den strahlend weißen Mu-seumswänden ausgestellt waren, darf nicht vergessen werden, dass die meisten Exponate ur-sprünglich nicht als eigenständige Kunstwerke verstanden wurden. Massenhaft produziert macht das Plakat exklusive Werke der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Es lebt in einer Zwischenwelt aus Werbemittel und Kunstwerk. Klar ist jedoch, dass es immer eine Funktion zu erfüllen hat und nicht für sich selbst steht. Umrahmt von Typographie, die über Galerie- und Künstler*innennamen, Titel und Dauer der Ausstellung informieren, präsentierten sie sich den Besucher*innen als bunte Bil-der, die ‚schön‘ anzusehen sind. So überrascht es nicht, dass die Werke aus der Unternehmens-sammlung KÖNA in den Büros des Elektrogroßhandels hängen, wenn sie nicht gerade den Bli-cken der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der Inhaber des Unternehmens, Mathias Naumann, beschreibt das in einem Interview ganz pragmatisch: „Diese Plakate sind gerade noch in einem vernünftigen Rahmen erschwinglich, decken ein enorm breites Spektrum ab, sodass für fast jeden Geschmack etwas dabei ist, und sie sind sicher werterhaltend.1

Wer die Zeit des Zuhausebleibens im letzten Jahr dazu genutzt hat, das eigene Wohnzimmer oder das Home-Office umzugestalten, der weiß vielleicht, dass Mathias Naumann mit dieser Meinung nicht allein ist. Wenn man den zahlreichen Home Decor- und Interior Design-Blogs Glauben schenken möchte, sind Ausstellungsposter die ideale Möglichkeit, Kunst ins eigene Heim zu bringen.2
Es entsteht der Eindruck, dass ein Ausstellungsplakat nicht nur in der Funktion als Werbung die Brücke schlägt, zwischen den Akteur*innen des künstlerischen Felds und jenen, die oft noch da-von ausgeschlossen werden, sondern auch in dem Produktionsfeld, das den Wert eines Kunst-werks bestimmt, eine höhere Durchlässigkeit der Grenzen ermöglicht. Kunstsammler*innen und Hobbyinneneinrichter*innen kommen hier durch den kollektiven Glauben an das Werk, die illusio (nach Pierre Bourdieu), zusammen und nehmen so Einfluss auf den Wert.3

Das Kunstmuseum Münster war sich der Ästhetik der Exponate wohl bewusst und zitierte in einem Wandtext Henri Matisse „Das Dekorative ist etwas sehr Kostbares an einem Kunstwerk. Es ist ein wesentlicher Bestandteil. Es hat nichts Abwertendes, wenn man von den Werken eines Künstlers sagt, sie seien dekorativ.“4 Dieser allgemeinen Beliebtheit erfreut sich das Ausstellungspakat nicht erst neuerdings. Begriffe wie „Affichomanie“ oder „Poster Boom“ beschreiben schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Obsession mit Plakaten; in der Pariser Druckerei Mourlot Fréres gingen namhafte Künstler*innen ein und aus. Aus dieser Druckerei stammten die meisten Exponate der Ausstellung, sie geht mit dem Trend und eröffnet 1967 eine Dependance in New York und verpasst so nicht den Shift der Weltkunststadt von Paris nach New York. Das Plakat wird also als eigenständige Kunstform aner-kannt. Das hat u.A. zur Folge, dass Künstler*innen ihre Ausstellungsplakate nicht mehr nur von Grafiker*innen setzen lassen, sondern auch eigene Plakate entwerfen. Hier wird unterschieden zwischen Ausstellungsplakaten und Künstlerplakaten. Diese Unterscheidung fällt beim Gang durch die Ausstellung nicht leicht. Originalwerke hingen neben werblichen Drucken, und erzeug-ten so den Eindruck, dass die Abgrenzung der beiden Gattungen nicht von Bedeutung sei.
Mit Künstlerpositionen wie Keith Haring wurde die Entwicklung des Plakats von der Werbung zum Kunstobjekt auch in die entgegengesetzte Richtung abgebildet. Der Künstler beginnt sein Schaf-fen mit Street-Art, Graffiti, die nicht selten auf überklebten Plakaten im Stadtbild zu finden sind. Von dort aus schaffen seine Werke es dann in die Museen und Galerien. Die Werbung ist also von der Kunst nicht sauber zu trennen, die Gattungen überschneiden sich und gehen ineinander über. Die Präsentation der „Galerie der Straße“ in Münster zeigte nicht nur das, sondern spannte auch den Bogen zwischen der ‚klassischen‘ Kunstmetropole Paris und dem modernen New York, das diese Rolle in der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm. Wer sich selbst ein Bild von den farbenfrohen Exponaten, gepaart mit Texten zu einzelnen Künstler*innen und dem „Plakat-wahn“ auch nach Ablauf der Ausstellung machen möchte, dem sei der Katalog zur Ausstellung „Die Galerie der Strasse. Plakatkunst des 20. Jahrhunderts“ ans Herz gelegt.
Ausstellung: Die Galerie der Straße. Plakatkunst von Picasso zu Pollock, 3. Juli bis 26. Septem-ber 2021, Kunstmuseum Pablo Picasso Münster

Katalog: Die Galerie der Strasse - Plakatkunst des 20. Jahrhunderts, Hrsg. von Jork Huizinga, Markus Müller, Mathias Naumann, deutsch, 232 Seiten, 150 Abbildungen in Farbe, Hirmer Verlag, Preis: 45 €

Fußnoten:

1. Markus Müller & Mathias Naumann: Ein Gespräch über die Sammlung, erschienen im Katalog zur Ausstel-lung „Die Galerie der Strasse. Plakatkunst des 20. Jahrhunderts“, erschienen bei Hirmer.

2. Das eine Kunstwerk, das an deinen Wänden noch fehlt. Quelle: Apartment Therapy, The House that Lars built, House and Garden

3. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 1992.

4. Jack D. Flam, Matisse. Über Kunst, Zürich 1982.