Peter Wohlleben: Das Seelenleben der Tiere

Es gibt Beobachtungen von Wolfsrudeln, die Freundschaften mit Raben schließen, Experimente mit Tauben, die hunderte von abstrakten Darstellungen unterscheiden können und Medienberichte über eine Krähe, die ein verwaistes Kätzchen umsorgt. Für den Förster und Autor Peter Wohlleben (*1964, Bonn) sind solche Phänomene Beweis dafür, dass Tiere keine instinktgeleiteten Maschinen, sondern beseelte Lebewesen sind. Die Bandbreite der tierischen Gefühlswelt untersucht Wohlleben, der erst im letzten Jahr mit seinem Buch Das geheime Leben der Bäume (2015) einen Bestseller vorlegte, in seinem neuen Buch Das Seelenleben der Tiere (2016).
Auf fast 230 Seiten, die in thematische Kapitel wie Dankbarkeit, Erziehung oder Lug und Trug gegliedert sind, zeichnet Wohlleben anhand von Medienberichten über kurioses Tierverhalten, wissenschaftlichen Untersuchungen und eigenen Beobachtungen aus seiner langjährigen Arbeit als Förster und Tierhalter ein faszinierendes Bild des differenzierten Empfindens unterschiedlicher Tierarten. Neben zahlreichen amüsanten Darstellungen tierischer Verhaltensweisen fragt Wohlleben, ob die Annahme, dass der Mensch eine Seele als Form immateriellen Seins besitzt, nicht notwendigerweise auch für die Tiere gelten müsse. Denn davon auszugehen, ein Seelenleben wäre allein dem Menschen vorbehalten, käme der Vorstellung gleich, der Mensch hätte zu einem bestimmten Zeitpunkt des Evolutionsprozesses das Tier als empfindsamen Vorgänger abgehängt und sei von da an das einzig beseelte Lebewesen. Ebenso wie der weit verbreitete Glaube, jedes Tier habe eine spezielle Funktion innerhalb des Ökosystems, geht auch diese Vorstellung laut Wohlleben nur in einem Weltbild auf, das den Mensch automatisch als dessen Zentrum versteht.

Da der Mensch letztendlich doch auch nur ein Tier sei, ist Wohllebens Methode, das tierische Seelenleben vorzugsweise in Analogien zum menschlichen Empfinden aufzuzeigen, nachvollziehbar. Die enge Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier wird auch in Studienergebnissen deutlich, die Wohlleben anführt. So konnten amerikanische Forscher der Penn State University of Oxford beweisen, dass Nadelstiche im Maulbereich von Fischen Reaktionen im dem Bereich des Hirns der Fische auslösten, in dem auch Menschen Schmerzreize verarbeiten. Damit scheint das Schmerzempfinden der Fische bewiesen. Mit derartigen Beispielen macht Wohlleben deutlich, dass oft quälende Experimente durchgeführt werden, um das Empfinden der Tiere zu erforschen. Die Tiere müssen dem Mensch ihr Leid erst beweisen. Der Autor schlägt daher vor, Tieren ihre Leidensfähigkeit nicht bis zum Gegenbeweis abzusprechen, sondern umgekehrt von einem differenzierten Empfinden auszugehen.

Mehrfach verweist Wohlleben auf Schweine, die trotz wissenschaftlichen Beweisen ihres Empfindens keine dementsprechende Achtung erfahren. So ist für ihn etwa ein in Niedersachsen durchgeführtes Experiment, bei dem Schweine nach einwöchigem Training auf ihren Namen mit einem bestimmten Verhalten und erhöhtem Pulsschlag reagierten, während alle nicht namentlich aufgerufenen Artgenossen keine Reaktion auf den fremden Namen zeigten, Anlass für die Annahme, das diese Schweine ein Selbstbewusstsein besitzen. Denn ebenso wie bei dem mit verschiedenen Arten durchgeführten Spiegeltest, bei dem das Tier erkennen muss, dass ein Spiegel es selbst und nicht etwa einen Artgenossen abbildet, verbindet das Tier sich selbst mit einem Bezugsobjekt, sei es sein Name oder sein Abbild. Wohlleben verweist anhand solcher Ergebnisse auf die Brutalität der Massentierhaltung, die unter anderem Schweinen, die sowohl den Spiegel- als auch den Namenstest bestehen, jegliches (Schmerz-)Empfinden abspricht.

Anhand zahlreicher ähnlicher Beispiele zeigt Wohlleben in verständlicher Weise neueste wissenschaftliche Erkenntnisse über das tierische Seelenleben auf und diskutiert kritisch gängige Forschungsmeinungen und gesellschaftliche Vorstellungen mit nachvollziehbaren Argumenten. In seinem von zahlreichen Beobachtungen gefüllten, verständlich geschriebenen und einfühlsamen Buch plädiert Wohlleben dafür, eingefahrene Denkmuster hinsichtlich der Tierwelt zu überdenken und entgegen der Praxis vorzugsweise an der Unbeseeltheit, statt der Beseeltheit der Tiere zu zweifeln.
Peter Wohlleben: Das Seelenleben der Tiere. Liebe, Trauer, Mitgefühl - erstaunliche Einblicke in eine verborgene Welt. Ludwig Verlag, München 2016. ISBN: 978-3-453-28082-3 (€ 19,99)