Geplante Planlosigkeit: Eine Reise vom Ankommen und Verabschieden „Einfach Loslaufen“ – Ein Reisebildband von Svenja Beller und Roman Pawlowski

Einfach Loslaufen – Wer hat noch nicht mit diesem Gedanken gespielt? Was es dazu braucht? Vielleicht eine grobe Richtung, vielleicht noch gutes Schuhwerk, oder als Inspiration den Bildband „Einfach Loslaufen – Eine Reise in fremde Leben. Von der Haustür in den hohen Norden“ von Svenja Beller und Roman Pawlowski.
Ohne Frage trifft man auf Barrieren, wenn man sich planlos auf den Weg macht. Wie spricht man zum Beispiel Menschen an und überzeugt sie davon, zwei fremde Reisende für ein bis zwei Nächte aufzunehmen? Das haben sich wohl auch die Journalistin Svenja Beller und der Fotograf Roman Pawlowski gefragt, bevor sie - nur mit einem Rucksack und einem Zelt bepackt - ihre Wohnung in Hamburg in Richtung Norden verließen.

Um die Antwort direkt vorwegzunehmen: Ein Patentrezept gab es wie in allen anderen Bereichen des Lebens nicht. Und das ist auch genau das, was dieses Buch so spannend und faszinierend macht. Der Norden als grobe Marschroute stand schnell fest, ebenso die Frage nach den Unterkünften und Fortbewegungsmitteln. Wenn möglich, wollten sie bei Einheimischen übernachten, das Zelt nur als Notlösung dienen. Öffentliche Verkehrsmittel wollten sie meiden und auf die eigenen Füße und das Trampen vertrauen. Alles Weitere sollte sich willkürlich und spontan entwickeln. Fest stand: Sie mussten auf dieser Reise ihre eigene Komfortzone verlassen, um die „Reise in fremde Leben“ zu verwirklichen. Ursprünglich war ein Reisebericht ohne strenge Richtlinien für das Greenpeace Magazin, für das Beller arbeitet, geplant. Oder wie es Pawlowski bei einer Lesung in der Münsteraner Thalia-Filiale am 27. April 2018 formulierte: Die Reise war „geplante Planlosigkeit“.
Herausgekommen ist kein weiterer kitschig pathetischer Reisebericht über Suche, Grenzerfahrung und die Erkenntnis über Sinn und Wesen des Lebens und der Welt. Herausgekommen ist eine Sammlung vieler kleiner textlicher sowie bildlicher Porträts über Menschen, die den Autoren Zugang zu ihrem Inneren gegeben haben. Um ihre Gesprächspartner in den Vordergrund rücken zu lassen, nehmen sich die Autoren stets bewusst zurück, was eine große Stärke des im Dumont Verlag erschienenen und liebevoll verlegten Buches ist.
Sprachlich gesehen ist der vorliegende Bildband vielleicht kein Meisterwerk mit der literarischen Tiefe eines Böll oder Fontane, aber das will und versucht er auch gar nicht zu sein. Vielmehr ist es das leichtfüßige Spiel mit den Worten und die nüchtern, wie beiläufig, im Präsens beschriebenen Einzelschicksale, die immer wieder die Neugierde wecken. Insbesondere Pawlowskis Bilder, häufig aussagekräftig inszenierte Porträts der beschriebenen Personen, sind es, die diesen Bildband perfekt abrunden und die eigene Vorstellungskraft anregen.

Da wäre zum Beispiel gleich zu Beginn, auf der Autofähre über die Elbe zwischen Wischhafen und Glückstadt, „Pit“ mit seinem dreijährigen Mastiff „Leo“, der sie in seinem gerade angeschafften Wohnmobil wie selbstverständlich mitnimmt auf ihren ersten Metern die norddeutsche Tiefebene hinauf. „Einfach Loslaufen“ oder Losfahren wird hier spürbar und konkret:

„Für sein Wohnmobil hat er sich extra zwei Namensschilder anfertigen lassen, Pit und Leo, drei Buchstaben für jeden. Als wir das Nordufer erreichen, dürfen wir einsteigen. Keiner von uns hat einen Plan, wo es hingehen soll, also fahren wir einfach los. Pit stellt ein Ziel auf seinem Navigationssystem ein, missachtet dann aber die Anweisungen, und so fahren wir eine Weile nur um des Fahrens willen, es stört keinen von uns.“

Pit ist ebenfalls ein Reisender ohne konkrete Destination. Pit, ein Mann, der seine Eltern bis zum Tod pflegte und den Kontakt zu seinem Bruder und seiner Tochter verlor, hatte seine beste Zeit in einer Alkoholtherapie: „Schöner als die Sauferei davor.“ Wie nebenbei erzählt, verlangt es einen sofort danach, diesen Menschen selbst einmal kennenzulernen, Leo ebenfalls einmal über den Kopf zu streicheln. Aber dann geht es auch schon weiter.

Wenige Tage später in einer Flensburger WG, in der die beiden ohne großes Nachfragen aufgenommen werden, treffen sie auf den Wikinger „Micha“, einen experimentellen Archäologen, der eigentlich Sport und Kunst studiert, nur gerade keinen „Bock“ mehr hat. In seiner Einrichtung, die Waffen und Schilde wie auch pflanzlich gefärbte Kleidung beinhaltet, versucht er sich der Wikingerzeit historisch so genau wie möglich anzunähern. „Wikingerfilme kann er sich jetzt nicht mehr anschauen, da ist ja alles falsch“. Doch auch wenn die eine Geschichte schon spannend genug, die Erfahrung und Begegnung noch so schön sein mag, so muss es doch weitergehen: „Das hier ist nicht nur eine Reise der vielen Begegnungen, es ist auch eine Reise der vielen Abschiede“, stellt Beller philosophisch fest. Auf ihrem Trip gibt es somit nur einen roten Faden, eine Konstante: Weiterziehen, und dabei die Natur und die Geschichten der Menschen inhalieren.

.Immer wieder zeigen Beller und Pawlowski den Kontrast zwischen dem touristischen Reisen und dem kulturellen Erfahren auf. Wenn sie also stellvertretend über Kopenhagens „Hippie-Kolonie“ Christiana berichten, von dem sich Touristen das besonders Ereignishafte wünschen, bleibt von dieser nicht mehr als der „Eventcharakter“. So bekundeten Teile der Besucher tatsächlich ein kulturelles Interesse an dem jeweiligen Ort. Im Moment des Ankommens sähen viele von ihnen aber schrecklich verloren aus, weil ihnen auffalle, dass sie gar nicht wissen, wie sie mit ihrem Dasein an diesem Ort umgehen sollen. „Dann stehen sie da und machen ein paar Fotos, und um die aufkommende Leere zu füllen, wurden ja glücklicherweise die Souvenirs erfunden“, beobachten Beller und Pawlowski. An dieser Stelle könnten sie in eine wohlfeile Tourismus- und Konsumkritik einsteigen, worauf sie aber verzichten.

Stattdessen nutzen sie die Kraft ihrer Worte und seiner Bilder als Kontrastmittel. So auch bei der Beschreibung ihrer Begegnung mit „Ronny“ im norwegischen Gartland, die dazu motiviert, selbst mal die Lebenswege fremder Menschen kennenzulernen. Der Kriegsveteran hat trotz einer lebensverändernden Schussverletzung während eines Einsatzes im Irak und Kuwait seine Vorliebe für Waffen nicht verloren. Wieder einfach loslaufen und der Gegenwart auf seinen Wanderungen im Wald entfliehen zu können, ist wohl seine größte Errungenschaft. Es ist für das Autorenpaar bezeichnend, dass ihnen dieser Kontakt noch lange in ihren Gedanken nachhängt und sie ihn um seine „Freiheit“ beneiden. Ronny ist zugleich vielleicht das beste Beispiel dafür, dass Beller und Pawlowski genauso aufgeschlossen auf die Menschen zugehen, wie auch ihnen begegnet wird.
Je länger die Reise andauert, je mehr Menschen sie treffen, desto mehr kommt der Eindruck auf, dass alles so einfach erscheint. Und so geben die Autoren im Gespräch auf der Lesung auch unumwunden zu, dass dieses Buch unter dem Gesichtspunkt der Spannung im Sinne von negativen Erfahrungen mit Menschen, ein sehr langweiliges sein muss. Es habe einfach keine schlechten Erfahrungen gegeben. Als Blaupause dazu und für den Erfahrungswert dieses Experiments kann die Begegnung mit „Lasse“ nördlich des Polarkreises in der Nähe des Gletschers Salitjelma gelten. Selbstverständlich organisiert er den beiden eine Hütte, in der sie in der Nähe des Gletschers schlafen können. Wie? Ganz einfach:

„Mir wird es schon langsam unangenehm, dass er sich so für uns ins Zeug legt, da kommt ein älteres Paar aus dem Laden und schickt sich an, zum Auto zu gehen, in dem der Hund hechelnd wartet. Sie geht schon mal vor zum Wagen, er wechselt ein paar Worte mit Lasse. Dann zückt er seinen Schlüsselbund, dreht einen Schlüssel ab, reicht ihn Roman, sagt: >>be careful<<, lacht und verschwindet Richtung Auto.“

Nicht zu erwähnen, dass Lasse sie noch zur Hütte fährt. Warum er sich so für die beiden einsetzt und dabei so zufrieden ist? Als ein Erklärungsansatz mag Pawlowskis Anregung dienen, dass sie als fremde Autoren natürlich auch den Lebensalltag der betroffenen Personen durchbrechen, ihr Leben bereichern und Stoff zum Erzählen geben. Womöglich sind die Menschen in Norwegen aber auch einfach unglaublich aufgeschlossen und hilfsbereit. Der Aufenthalt in dieser Region beinhaltet noch eine weitere erzählenswerte Dimension: Die ehrfurchtserregende Begegnung mit Salitjelma. Dazu rät Beller „all jenen Leuten mit einem zu großen Ego: Stellt euch einem Gletscher gegenüber, und ihr werdet demütig“. An dieser Stelle des Buches tritt Bellers erzählerisches Geschick hervor. Mit nur wenigen Sätzen skizziert sie diese überwältigende Naturerfahrung so, dass sie für die LeserInnen greifbar wird. Pawlowski untermalt dies alles mit einem beeindruckenden doppelseitigen Bild, in der der Mensch, hier Beller, in den Hintergrund der Naturkulisse rückt.
Die Reise endet im letzten Kapitel in Tromsø. Wie zur Bestätigung, das alle Strapazen bis hierhin jede Sekunde wert waren, schlägt ihnen auf einem Kreuzfahrtschiff „die Karten spielende, strickende, starrende Langeweile entgegen (...)“. Am Ende ist es „Zeit für ein Hotel“. Beim ersten Stillstand seit zwei Monaten erfolgt die prosaische Erfüllung und die Erkenntnis, dass es wirklich funktioniert hat: „sogar viel besser als wir uns das je hätten vorstellen können. Wir haben sie wirklich kennengelernt, die Menschen, die Länder, die Bäume, die Ameisen, die Regentropfen. (...) Nur hier in diesem Hotelzimmer fühlen wir uns eingesperrt, lahmgelegt, falsch.“

Was bleibt nach der Lektüre übrig? Jedes einzelne Erlebnis ist für sich erzählenswert. Umso größer ist im Umkehrschluss die Gefahr, das eigentlich Elementare dieses Buches nicht herausgestellt zu haben. Letztendlich verhält es sich bei der Lektüre dieses Buches vermutlich so, wie es den beiden Reisenden auf ihrer Reise ergangen ist: Die wesentliche Erkenntnis ist zwar subjektiv, allerdings gibt es einen objektiveren Weg ihr näher zu kommen als auf üblichen touristischen Pfaden. Eines ist am Schluss aber ganz sicher: „Einfach Loslaufen“ ist ein sehr lesenswertes Buch.
Svenja Beller und Roman Pawlowski
Einfach Loslaufen.
Eine Reise in fremde Leben. Von der Haustür in den hohen Norden.
DuMont Reiseverlag, Ostfildern 2017, 22,90€
ISBN: 978-3-7701-8885-7