Von einer Stadt, die Weltkulturerbe werden möchte. Zu Besuch in Naumburg an der Saale

Naumburg ist ein kleines Städtchen in der lieblichen Hügellandschaft von Saale und Unstrut. Bekannt ist das Gebiet vor allem für seinen Weinanbau und einige idyllisch gelegene, hochmittelalterliche Burgen und Burgruinen. Der Naumburger Dom stellt darüber hinaus eine der gerade für Kunsthistoriker bedeutendsten Kirchen Deutschlands dar. Die Ausstattung des Westchors zählt mit zum Beeindruckendsten, was das Mittelalter an Skulpturenprogrammen hervorgebracht hat. Mit diesem historischen Erbe hat sich die Stadt nun schon zum zweiten Mal bei der UNESCO-Kommission um den Titel des Weltkulturerbes beworben – und ist zum zweiten Mal gescheitert.
Bei einer Bewerbung um diesen Titel geht es in erster Linie darum, das Alleinstellungsmerkmal und den weltweit bedeutsamen Rang des Kulturdenkmals oder der Kulturlandschaft herauszustellen. Doch genau daran scheiterte bereits die erste Bewerbung im Jahr 2015. Den internationalen Rat für Denkmalpflege ICOMOS, der im Voraus ein Gutachten anfertigt und eine Empfehlung für die UNESCO-Kommission ausspricht, überzeugte die hochmittelalterliche Burgenlandschaft von Saale und Unstrut nicht. Zwar lassen sich noch überall Spuren des Hochmittelalters finden: Burgen, Dörfer, in denen sich die ursprüngliche Struktur erhalten hat, und nicht zuletzt der Weinanbau, den die Zisterziensermönche kultivierten und deren Kloster, heute als Landesschule genutzt, immer noch steht; doch werden all diese Zeugnisse verunklärt durch die moderne Landwirtschaft, die Ansiedlung neuer Industrien und durch Verkehrswege, die das Gebiet durchkreuzen. Die moderne Infrastruktur steht der Bewahrung einer authentischen hochmittelalterlichen Landschaft teilweise entgegen. Bis jetzt fehlt ein einheitliches Denkmalschutzkonzept. Außerdem gibt es in Deutschland bereits andere, ausgezeichnete Kulturlandschaften, wie das obere Mittelrheintal.

Weltberühmtheit kann vor allem das Skulpturenensemble der zwölf Stifter im Westchor für sich deklarieren. Auch wenn die Naumburger Stifterfiguren vielleicht nicht jedem auf Anhieb etwas sagen, dürfte zumindest eine dieser Figuren durch ihre Disney‘sche Adaption allen bekannt sein. Die Rede ist von niemand anderem als der bösen Königin in Walt Disneys Snow White (1937). Eben jene Comicfigur mit ihrer Krone und dem hoch gestellten Mantelkragen wurde von niemand anderem als der schönen Uta von Ballenstedt (um 1000–1046), Markgräfin von Meißen, inspiriert. Die edlen Gesichtszüge der Uta und die züchtige, vornehme Art, mit der sie ihr Kinn durch den zurückgeschlagenen Mantelkragen halb verborgen hält, machten sie seit den 1920er Jahren zu einer nationalen Ikone. Isoliert von den übrigen Stifterfiguren fand sie durch das Medium der Fotographie weite Verbreitung. Da man so gut wie nichts über die historische Uta weiß, bot ihre Skulptur unendliche Möglichkeiten zur Projektion. Diesen Umstand erkannten auch die Nazis und missbrauchten ihn für Propagandazwecke. Auf die Frage: „Wer ist die schönste im ganzen Land?“, hätten viele Deutsche damals wohl mit „Uta!“ geantwortet. Wer also wäre 1937 besser als Vorbild für Disneys böse Königin geeignet gewesen? Anders verhält es sich jedoch mit dem Naumburger Dom. In seiner 41. Sitzung Anfang Juli in Krakau erkannte das UNESCO-Welterbekomitee den „außergewöhnlichen universellen Wert des Naumburger Doms“ an. Damit erhält Naumburg die Chance, mit einem erneuten Antrag doch noch in die Liste der UNESCO aufgenommen zu werden. Mit Blick auf seine weltberühmte Skulpturenausstattung ist diese Entscheidung durchaus nachvollziehbar.
Die berühmte Schönheit der Uta ist aber auch noch heute erfahrbar. Nach wie vor wird sie des Öfteren mit dem Titel „schönste Frau des Mittelalters“ bedacht. Viele Besucherinnen und Besucher überrascht es lediglich, dass man einmal den ganzen Dom durchqueren muss, um sie dann am westlichen Abschluss eingebunden in einen Dienst des gotischen Gewölbes und neben ihrem Mann Ekkehard II. (um 985–1046), Markgraf von Meißen, vorzufinden. Ja und sie ist noch nicht einmal die einzige Frau! Ihr gegenüber steht die selig grinsende Reglindis, die es schafft, einen unwillkürlich zum Lächeln zu bringen.
Insgesamt wird die Betrachtung der Stifterfiguren heute wesentlich differenzierter betrieben und im Kontext der anderen Ausstattungstücken des Westchores untersucht. Geschaffen wurden sie Mitte des 13. Jahrhundert von einem durch historische Quellen nicht zu fassenden Bildhauer mit dem Notnamen ‚Naumburger Meister‘. Dieser Meister, der vermutlich zusammen mit einer Werkstatt reiste, bekam die Impulse für sein künstlerisches Schaffen aller Wahrscheinlichkeit nach von Frankreichs Kathedralen. In der engeren Auswahl steht die Kathedrale von Reims, an dessen Skulpturenportalen sich das sprichwörtliche „Lächeln von Reims“ in Erwartung des kommenden Heils zum ersten Mal in der mittelalterlichen Skulptur zeigt. Die Einzigartigkeit und Individualität der Naumburger Skulpturen wäre ohne diesen Einfluss nicht zu erklären. Dennoch ist der Naumburger Meister selbst mehr ein Konstrukt, ein Wunschbild der kunsthistorischen Forschung. Die Vorstellung, es habe diesen einen genialen Bildhauerarchitekten gegeben, führte dazu, dass ihm alle möglichen Werke auf seiner angeblichen Route über Noyon, Metz, Straßburg und Mainz bis nach Naumburg zugeschrieben wurden. Wirklich nachweisen lässt sich die Tätigkeit seines Werkkreises neben Naumburg jedoch nur in Mainz sowie in Bamberg.

Die Stifterfiguren waren von Beginn an eingebunden in den Neubau des Westchores im damals hochmodernen gotischen Stil. Die Werkstatt des Naumburger Meisters war dabei sowohl für die Architektur als auch für die Ausstattung des Chores verantwortlich. Aus diesem Grund hat sich in Naumburg ein Bildprogramm erhalten, das in seiner Form einzigartig ist. Wie aber kam es zu diesem Neubau? Nachdem man das Langhaus nur kurze Zeit zuvor in spätromanischem Stil fertiggestellt hatte, wurde der Auftrag für den Westchor unter dem neu gewählten Bischof Dietrich II. (1244–1272) vergeben. Die Stifterfiguren bilden jedoch nicht die zeitgenössischen Stifter des Chores ab. Vielmehr greifen sie die ursprünglichen Stifter der Bischofskirche, darunter die Markgrafen und-gräfinnen von Meißen auf, die mehr als 150 Jahre zuvor ihre sichere Burg als Ort der Bistumsverlegung zur Verfügung gestellt und eine erste Kirche begründet hatten. Auf diese Tradition wollte man sich stützen, zumal es immer wieder Streit um eine mögliche Rückverlegung des Bistums ins nahegelegene Zeitz gab.
So errichtete man gegenüber dem nur wenig älteren, heute immer noch vorhandenen Lettner im Osten einen gotischen Lettner im Westen. Die Leistung des Naumburger Meisters lag dabei nicht nur in der hohen Qualität der Ausstattung, sondern auch in der Originalität seiner Bildlösungen. Für gewöhnlich erwartet man auf einem Lettner, der den Bereich der Laien von dem des Klerus trennt, eine Triumphkreuzgruppe, unter der sich meist ein Kreuzaltar befindet. Die Kleriker konnten den Chor durch einen Seiteneingang betreten und häufig gab es die Möglichkeit, über eine kleine Treppe auf den Lettner zu gelangen, um von dort aus zu predigen. All dies fehlt hier. Stattdessen wurde der Gekreuzigte mit den beiden Trauernden, Maria und Johannes, nach unten an ein Eingangsportal im Lettner verlegt. Der Eintretende wird unmittelbar von dem Leid des Gekreuzigten ergriffen und zu Mitgefühl, zur compassio, angeregt. Eine weitere Anregung zum Nachvollzug der Passion Christi geben die, im Original leider nur noch auf der linken Seite des Lettners erhaltenen Relieffelder mit der Schilderung des Verrats und der Gefangennahme Christi. Über allem thront in einem Vierpass über dem Doppelportal Christus als Weltenrichter. Im Vergleich zu den lebensnahen Reliefs und Skulpturen wirkt diese Malerei wie eine Erscheinung. Wenn man ganz genau hinschaut, kann man eine Wiederholung dieses Motivs im oberen Sechspass des gotischen Maßwerkfensters im Westen erkennen. Dieser Bezug auf das Jüngste Gericht wird im Chor noch weiter aufgegriffen. In den Fenstern finden sich die zwölf Apostel sowie Tugend- und Lasterdarstellungen wieder. Schließlich stehen an der Stelle, an der man sonst eher die Apostel erwarten würde, umrahmt von gotischer Baldachinarchitektur die zwölf Stifterfiguren. Dem damaligen Betrachter traten sie jedoch nicht als historische Persönlichkeiten, sondern als zeitgenössische Adelige gegenüber. In ihren Mienen finden sich Freude, Trauer, Zorn, Erhabenheit – Eigenschaften also, in denen sich die Menschen wiedererkennen konnten. Im Verständnis der damaligen Zeit waren selbst die ehrbaren Stifter der Kirche nicht frei von Sünde. Auf diese Weise reihen sie sich in das Gesamtprogramm der bildlichen Ausstattung ein. Im Angesicht des Jüngsten Tages, an dem Christus über die Menschen zu Gerichte zieht, hoffen auch sie auf Gnade und Erlösung. Sie stehen somit eine Stufe unter den Aposteln, die im Programm der Glasfenster auftauchen, da sie es bereits in den Himmel geschafft haben.
Gegen ein kleines Eintrittsgeld können Besucher das gesamte Domgelände, inklusive Kreuzgang, die heute als Museum genutzten Konventsgebäude und Domgarten, erkunden. Natürlich wird dabei der Mythos des Naumburger Meisters noch ein bisschen fortgesponnen. Im Domgarten wurden dafür eigens die Pflanzen angebaut, die sich in den floralen Kapitellen am Westlettner wiederfinden. Außerdem gibt es eine anschauliche Ausstellung zum Naumburger Meister und seinem nachgezeichneten Weg von Nordfrankreich bis nach Naumburg. Anders als zur Zeit seiner Errichtung ist der Zutritt in die beiden Chöre heute jedem gestattet. Da man den Dom über das östliche Querhaus betritt, liegt meist schon ein spannender Rundgang hinter einem, bis man schließlich im Westchor vor den Stifterfiguren steht und zur Uta aufblickt. Ganz unvermittelt kann einen dann doch die Begeisterung übermannen. Was der Naumburger Meister mit seinem Figurenprogramm geschaffen hat, wird zu Recht bis heute gewürdigt.

Es bleibt abzuwarten, ob Naumburg innerhalb der nächsten drei Jahre endlich das lang ersehnte Ziel erreichen wird, zum UNESCO Weltwerbe aufzusteigen. Für den Tourismus in der Region wäre das auf jeden Fall ein großer Gewinn. Aber auch für die Bewahrung des historischen Erbes würde dieser Schritt ein wichtiges Zeichen setzen, damit noch die nächsten 750 Jahre die Schönheit von Uta, Ekkehard, Reglindis und Co bestaunt werden kann.