Nassim Soleimanpour: Weiβes Kaninchen, rotes Kaninchen

Wagt man den Versuch, die Stimmung im Anschluss an die Darbietung des Stücks ,,Weiβes Kaninchen, rotes Kaninchen" vom 04.11.2018 im Euro Theater Central zu skizzieren, ergibt sich dabei die Schwierigkeit einer adäquaten Wiedergabe des breiten Spektrums an Emotionen und Gedanken, die das Publikum an diesem Abend zu beschäftigen scheinen.
Das 2011 in Edinburgh uraufgeführte Stück des iranischen Dramatikers Nassim Soleimanpour provoziert eine Vielzahl von Assoziationen und Erkenntnissen, ebenso wie die mit ihnen einhergehende Verunsicherung der Zuschauer. Sprachrohr für den Autor im Dialog mit dem Publikum ist an diesem Abend Schauspielerin Lili Koehler. Sie selbst ist den Zuschauern in ihrer Unwissenheit gleichgestellt, denn das Stück folgt dem Konzept einer so genannten ,,prima Vista" Lesung, bei der dem jeweiligen Interpret der Text im Vorhinein unbekannt ist. Ohne also eine Möglichkeit zur konkreten Vorbereitung gehabt zu haben, steht die 26-jährige Schauspielerin an diesem Abend vor der sich nach und nach abzeichnenden Herausforderung, sich selbst und die etwa 50 Zuschauer im Saal zum Teil eines Experimentes werden zu lassen, in dem der Autor die Herausforderungen des Lebens in einem totalitären System verhandelt. Bereits zu Beginn der Inszenierung lässt Soleimanpour Schauspielerin Lili Koehler seine persönliche Situation zum Entstehungszeitpunkt des Stückes im Jahr 2010 erklären; er habe sich geweigert, den Wehrdienst in seinem Heimatland anzutreten, was ihm die Ausstellung eines Passes und somit das Reisen in andere Länder unmöglich machte.

Die in dieser Information bereits anklingende Regimekritik zieht sich dann in Form vielschichtiger sprachlicher Bilder durch den gesamten Abend; so findet sich in der Erzählung über ein Kaninchen, das beim Theaterbesuch zum Bedecken seiner Ohren gezwungen wird beispielsweise eine offensichtliche Anspielung auf das Verschleierungsgebot durch die radikal muslimische Regierung im Iran.Ohne dem potenziell zukünftigen Zuschauer dieses Stückes, dessen Faszination nun einmal zu einem beachtlichen Teil von der Unkenntnis und Überraschung aller Beteiligten ausgeht, zu viel vorwegzunehmen, lässt sich wohl feststellen, dass die Inszenierung versucht, jene von Ihr kritisch thematisierte regimetreue Folgsamkeit in sich selbst zu veranschaulichen.
Nassim Soleimanpour scheint mit seinem Stück, das mittlerweile hunderte Male in über 15 Sprachen vorgetragen wurde, immer wieder neue Räume zu erschaffen, in denen das Publikum selbst sich die Beeinflussbarkeit des Individuums durch vorherrschende Machtstrukturen demonstriert und in denen er die Unabhängigkeit jenes Phänomens vom kulturellen Kontext beweist.

Das Euro Theater Central bietet an dieser Stelle die optimale Kulisse, um den imaginären Raum, auf engem Raum, real werden zu lassen und stellt so einmal mehr seinen Stellenwert in der Bonner Theaterlandschaft unter Beweis. Jener unerforschter Raum, in dem die Inszenierung stattfindet, ist wohl auch bei der Kritik an der Interpretation des Stückes durch die Schauspielerin zu bedenken. Finden sich in Lili Koehlers grundsätzlich souveränem Spiel an diesem Abend doch vereinzelte Unsicherheiten, so stellt sich die Frage, ob sich nicht genau diese als unverzichtbare Bestandteile in das Konzept des Stückes einfügen. Es wird der Inszenierung kaum gerecht, sie auf eine fesselnde Systemkritik zu reduzieren; immer wieder hält das Stück auch komische Elemente bereit, die Schauspielerin Lili Koehler, allem eigenen Unwissen zum Trotz, in gelungene, atmosphärische Momente verwandelt. Auf diese Weise reiht das Stück Komik und Tragik, ausgelassenes Lachen und bedrückende, nachdenkliche Stille aneinander und schafft es gleichzeitig, trotz seiner Konzeption vor nun mehr 8 Jahren, den Nerv des gegenwärtigen Publikums zu treffen. Auch dieses Phänomen findet seinen Bezugspunkt im Stück selbst: Immer wieder betont Soleimanpour, wie die Vergangenheit die Zukunft bedinge und die Zukunft die Vergangenheit forme und propagiert auf diese Weise ein gleichermaβen modernes wie reflektiertes Geschichtsverständnis.

Am Ende des Abends drängt sich allerdings die Frage auf, inwiefern sich Bestandteile und Herausforderungen des Lebens in totalitären Systemen tatsächlich im Rahmen eines etwa 90 minütigen Theaterstückes verhandeln lassen und wie stark jene künstlich erzeugten Demonstrationen bei freiwilliger Partizipation tatsächlich auf das Publikum wirken können.

In jedem Fall aber erfüllt das Stück einen wichtigen Zweck, indem es die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer auf den Machtmissbrauch und die willkürliche Brutalität totalitärer Herrschaft lenkt; Themen, die wohl nicht zuletzt auf die von Demonstrationen bezüglich des Wahlbetruges im Iran geprägte Zeit unmittelbar vor der Entstehung des Stückes zurückzuführen sind. Hat der Zuschauer den Theatersaal am Abend schlieβlich verlassen, so lässt ihn Autor Nassim Soleimanpour keinesfalls allein mit all seinen Fragen und Gedanken; denn das Stück ist, durch die mehrfache Aufforderung sich per Mail an den Autor zu wenden, tatsächlich als Dialog zu begreifen - Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Autor und Publikum. Und wer weiβ: Vielleicht wenden sich ja auch Schauspielerin Lili Koehler oder einige Ihrer (Leidens-)Genossen, zu denen unter anderem Whoopi Goldberg, Cynthia Nixon und Patrick Wilson zählen, nach diesem auβergewöhnlichen Experiment einmal an den Mann, der sie einen Abend lang zum Instrument seiner Botschaft werden lieβ.