„Bestandsaufnahme Gurlitt. Der NS-Kunstraub und die Folgen“ – Ein Kommentar

Für die Medien war der „Schwabinger Kunstfund“ 2013 eine Steilvorlage, um in großen Lettern sensationelle Enthüllungen über amoralische Machenschaften des Kunsthandels im Umgang mit „Entarteter Kunst“ während der NS-Herrschaft ankündigen zu können.
Allein der monetäre Wert dieses über 1500 Werke umfassenden „Nazi-Kunstschatz“ wurde mit Milliarden beziffert. Die (Vor)-Geschichte hätte gut und gerne das Script eines Sonntags-Tatorts sein können: Ein greiser Mann fährt 2010 Zug zwischen München und der Schweiz; die Bundespolizei führt Routinekontrollen durch; der alte Herr verschweigt einen größeren Geldbetrag, den er mit sich führt; die Fahnder hegen einen Anfangsverdacht wegen Steuerhinterziehung, staatsanwaltliche Ermittlungen folgen und die Geschichte nimmt einen unerwartet spektakulären Verlauf. Eine Chronik der Ereignisse findet sich im Archiv einer jeden größeren Medienanstalt. Nur die Perspektive der Berichterstattung ist mitunter divergent.
Sicher ist, dass Cornelius Gurlitt (1932-2014), Sohn von Hildebrand Gurlitt (1895-1956) - seines Zeichens ein umtriebiger Hauptakteur innerhalb des Kunstbetriebs zu Zeiten der NS-Herrschaft in Deutschland - jahrzehntelang in seinem Wohnhaus in München-Schwabing einen Großteil des geerbten, väterlichen Kunstbestandes, mit Granden aller Strömungen der klassischen Moderne und Avantgarde, bunkerte. Vermeintlich unbemerkt.

Loser Stoff, aus dem Mythen und Legenden gesponnen werden können. Retrospektivisch fällt es im Angesichts des Umstandes schwer, dass mediale Brimborium und den öffentlichen Aufschrei aus der Museums- und Kunstszene, ob der Offenlegung der exakten Bestände dieses Kunstkonglomerats, als Sensationsfund nüchtern nachzuvollziehen: Hildebrand Gurlitt war durch seine administrative und kuratorische Tätigkeit am König-Albert-Museum in Zwickau und am Kunstverein Hamburg vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in der zeitgenössischen Kunstszene bestens vernetzt, er trat selbst als Käufer/-Verkäufer (Kunstkabinett Dr. H. Gurlitt) auf und sein späterer Dienst als Kunsthändler im Auftrag der engsten NS-Führung für die Inbetriebnahme des Hitlermuseums Linz (Sonderauftrag Linz / Kommission zur Verwertung der Produkte entarteter Kunst), war öffentlich bekannt. Die Wirren des Nationalsozialismus waren mühsam, ein Weggucken von Mitwissern entschuldigen sie indes nicht. Allein logistisch gesehen kann Cornelius Gurlitt kein „Einzeltäter“ sein. Egal, ob er in seinem sozialen Umgang äußerst verschlossen auftrat oder nicht. Er versteckte sich nicht, sondern nahm nach Kriegsende gar sporadisch am Kunsthandel mit Werken der klassischen Moderne teil.

In verschiedenen Interviews äußerte sich Gurlitt nebulös hinsichtlich einer klaren Provenienz der Kunstwerke. Vielmehr stilisierte er sich als gebrochenen Mann, dem Unrecht und Leid seitens der Justiz angetan werde. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2014 ernannte er schließlich doch noch die Stiftung Kunstmuseum Bern zur alleinigen Erbin der „Sammlung Gurlitt“. Bis 2017 vergingen fünf lange Jahre, in denen adverse Akteure und deren Meinungen zu kontroversen Diskussionen um den juristisch sowie ethisch angemessen Umgang mit den Nachlass der Gurlitts führten. Durfte man die „Sammlung“ überhaupt beschlagnahmen? Ist die Sachlage wirklich so eindeutig? Handelt es sich überhaupt um eine „Sammlung“ im klassischen Sinne? Diese grundlegenden, formalrechtlichen Fragen kann eine Kunstausstellung als Diskussionsraum nicht suffizient beantworten. In ihr sprechen die Bilder.
In einer Doppelstellung zeigt das Kunstmuseum Bern gegenwärtig in Zusammenarbeit mit der Bundeskunsthalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn eine Auswahl des Schwabinger Kunstfundes erstmalig in einem komplexen musealen Kontext. Diesem ist ein langwieriger restauratorischer und kunsthistorischer Erfassungsprozess der Werkidentität der ausgestellten Exponate unter Federführung des Projekts „Taskforce Schwabinger Kunstfund“ am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste vorrausgegangen. Im Zuge umfangreicher Forschungsarbeit konnten bis Januar 2016 trotz immenser Bemühungen lediglich fünf Objekte (u.a. Max Liebermanns „Zwei Reiter“ (1901), Henri Matisses „Sitzende Frau“ (1921), Adolph von Menzels Zeichnung „Inneres einer gotischen Kirche“ (1874) sowie Camille Pissarros „La Seine vue du Pont-Neuf, au fond le Louvre“ (1902)) aus dem Besitz Gurlitts eindeutig als Raubkunst sowie sechs weitere Werke als unbelastet klassifiziert werden. Die überwältigende Mehrzahl liegt in einer unspezifischen Grauzone, in der es oft an unumstößlichen Dokumenten mangelt, die einen klaren Rückschluss auf begründete Restitutionsansprüche erlauben würden. Indizien alleine halten einer juristischen Prüfung, der Kategorisierung als NS-verfolgungsbedingt entzogen, nicht statt.

Aus diesem Grund präsentiert das Kuratorenteam um Intendant Rein Wolfs und Agnieszka Lulinska rund 250 Werke als Bestandsaufnahme Gurlitt, die möglicherweise bereits 2018 anlässlich einer geplanten Folgeausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin schon wieder überholt sein könnte. Der inhaltliche Fokus liegt auf einer chronologischen Einordnung jener Exponate als Fallbeispiele für die Struktur einer NS-Kunstpolitik, die sich bekanntermaßen vor allem für jüdische Mitbürger zum katastrophalen Nachteil entwickeln sollte. Sie sollten nicht nur als Angehörige einer Religionsgemeinschaft gesellschaftlich geächtet, verfolgt und schlussendlich ermordet werden; der Raub und Verkauf ihres kulturellen Erbes u.a. in Form hochwertiger „Entarteter Kunst“ sollte ferner der Finanzierung eines regimetreuen Museums im annektierten Österreich dienen. Mit der Umsetzung dieses Anliegens beauftragte die NS-Führung ab 1938 Hildebrand Gurlitt.

Die als Rundgang konzipierte Ausstellung vergegenwärtigt in fünf Kapiteln chronologisch die perfide Kulturpolitik im Dritten Reich und ihre Auswirkungen über die Nachkriegszeit nach 1945 hinaus. Anhand von acht nachdrücklichen Fallbeispielen werden Kunstwerke den Schicksalen ihrer einstmals rechtmäßigen Besitzer beigestellt. Der Radius der Geschädigten von Hildebrand Gurlitts Praktiken reicht vom Dresdener Rechtsanwalt Fritz Salo Glaser, dem die Avantgarde um Dix und Beckmann in seiner Heimatstadt am Herzen lag, bis zum Pariser Kunsthändler Jean Lenthal, gebürtig Hans Löwenthal, einem der wenigen Überlebenden des Holocausts. Ihnen Allen war gemein, dass sie Kunstliebhaber, Juden oder „jüdisch“-stigmatisiert, gemäß der Nürnberger Gesetze von 1935, waren.
Die aus kuratorischer Sicht für das Themenfeld obligate, analoge Beleuchtung der - zugebenerweise - bewegten Familiengeschichte der Gurlitts in der Ausstellung löst beim geschichtskundigen Besucher ein mulmiges Gefühl aus. Zwar entkrampft und vermenschlicht sie die blanke Faktenlage des systematisch-organisierten Kunstraubes, den Hildebrand Gurlitt mit zu verantworten hatte und gibt diesem ein Gesicht. Nur wirkt dieser Wechsel in die Perspektive des „Familiengeschichtenerzählers“ stellenweise blumig und marginalisierend entgegen der großen Dimensionen der Verbrechen, die ihr System beginn. Am Beispiel des Leipziger Musikverlegers Henri Hinrichsen, dem Gurlitt 1940 insgesamt vier Kunstwerke weit unter Preis abkaufte bevor er 1942 in Auschwitz zu Tode kam, wird deutlich wie skrupellos und unlauter Hildebrand Gurlitt mitunter vorging: Die Zeichnung Carl Spitzwegs „Das Klavierspiel“ (um 1840) aus der Sammlung Hinrichsens befand sich 2012 unter der beschlagnahmten Masse von Kunstwerken in Schwabing. Nach Kriegsende leugnete Gurlitt mehrfach vor Behörden und Hinterbliebenen von Henri und Martha Hinrichsen Kenntnis über den Verbleib der Zeichnung zu haben.

Hildebrand Gurlitt wurde nie für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen, nach Kriegsende verdingte er sich sogar erneut in der zeitgenössischen Kunstszene und leitete u.a. den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen bis zu seinem Tod am 9. November 1956.

Gewiss ist er kein Retter „Entarteter Kunst“! Er ist auch kein kleines Licht im NS-Apparat, sondern kann im engsten Beraterstab Adolf Hitlers angesiedelt werden, ähnlich dem Architekt Albert Speer. Moralisch ist die Vorstellung, dass sich sein Sohn jahrzehntelang an Kunstwerken erfreuen durfte, die unter normalen Umständen nie in seinen Besitz gekommen wären, nur schwer erträglich.

Die Ausstellung kann es nicht jedem Recht machen. Stichworte wie „Gurlitt“ und „Nazi-Raubkunst“ wecken einfach horrende Erwartungen. Allein die Emotionalisierung, die mit der Thematik erneut einhergeht, macht sie dringend notwendig. Sie reizt, konfrontiert, bildet weiter, vor allem aber verhindert sie das Vergessen. Attribute, die Ausstellungen gerne über sich hören.
Die Ausstellung ist noch bis zum 11. März 2018 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland zu besichtigen.
Eintritt: 6 € / 3,90 €
Ausstellungskatalog: 29,90 €
Die Öffnungszeiten und weitere Informationen entnehmen Sie bitte der Homepage der BKH!
Kathrin Engelmann
Kathrin Engelmann
Doktorandin bei Frau Prof. Anne-Marie Bonnet, Universität Bonn.