Mit Nadel und Faden gegen das Establishment

Am 17. September 2021 öffnete der Bonner Kunstverein seine Türen, um mit der Ausstellung David Medalla: Parables of Friendship zum ersten Mal in Europa eine monographische Gesamtübersicht über das Werk des queeren, philippinischen Künstlers David Medalla zu zeigen. Was als Ausstellung in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler in seinem Londoner Atelier begann, wurde mit dem plötzlichen Tod Medallas letzten Dezember gewissermaßen unfreiwillig zur ersten Retrospektive seines Werks – ein großes Wort, aber ausfüllen kann es die Bonner Ausstellung allemal. Denn neben raumgreifenden Installationen gibt es viel Platz für Masken, Zeichnungen und Künstlerbücher – Arbeiten, die zum großen Teil das Atelier bzw. mittlerweile das Archiv Medallas bisher tragischerweise noch nie verlassen haben, um ausgestellt zu werden.1

Facettiert, fragil, feinsinnig: Ein Blick in die Ausstellung


Wer den Bonner Kunstverein kennt, dem oder der fällt schon beim Durchschreiten der Eingangstür auf, dass etwas anders ist. Denn das erste Kunstwerk der Ausstellung befindet sich schon unmittelbar im Eingangsbereich des Kunstvereins. A Stich in Times begrüßt die Besuchenden mit einer gewaltigen goldenen Stoffbahn und einer Unzahl an darüber hängenden Garnrollen, an der Wand dahinter ein silberner Stoff, beschrieben mit ebenfalls goldener Schrift. Tritt man näher, erkennt man die scheinbar wahllosen Stickereien auf dem Stoff. Vermutlich verstehen die meisten Besuchenden erst viel später, dann wenn sie ein Gefühl für die Kunst Medallas gewonnen haben, dass A Stich in Times ein partizipatives Projekt ist. Dass David Medalla auf den silbernen Wandstoff eine Einladung an alle Besuchenden geschrieben hat, sich selbst auf dem Kunstwerk zu verewigen. Dass die Holzbänke mit den bunten Kissen drauf, die um die raumgreifende Stoffbahn platziert sind, für die Besuchenden zum Hinsetzen und Nähen gedacht sind. Dass Nadeln und Scheren, dass die von der Decke hängenden Garnrollen als Material für die kreative Arbeit bereitstehen. Dass die Stickereien, die schon auf dem Goldstoff zu sehen sind, von den Besuchenden vor ihnen stammen. Dass das Kunstwerk erst durch sie, durch die Gemeinschaft aller Beteiligten entsteht.
Tritt man nun in den Ausstellungsbereich, steht man unmittelbar vor der Wahl: erklimmt man die Treppe vor einem und erlangt einen Überblick über den Raum, oder entscheidet man sich für den langen Weg außen herum, auf dem sich im leeren weißen Raum nur ein Fenster zu einem einsamen fragilen Papierschiff Medallas öffnet? Das Fenster in der Wand der Ausstellungsarchitektur gewährt schon einen Blick auf die andere Seite, wo sich ebenfalls Fensterläden verschiedenartig öffnen, und Platz bieten für eine Collage an feinteiligen Werken Medallas. Die Vielfalt dessen wird einem direkt unmissverständlich vor Augen geführt: Neben Zeichnungen zu klassischen Themen westlicher Kunst wie die des griechischen Theaters stehen bekritzelte Pappteller, Aquarelle sowie ein Papierfetzen mit der Abbildung des Künstlers höchsteigenem Phallus.

Auf den ersten Raum der Ausstellung folgt ein Raum, der sich Medallas lebendigen Lichtarbeiten widmet. Die beiden Installationen Night Blooming Flower (1998), gebaut aus Neonleuchtstoffröhren in Glaskästen, bilden Blumenmotive und Schriftzüge, die abwechselnd aufleuchten und sich so dauernd verändern und miteinander agieren. Sie symbolisieren die Beziehung zu Medallas langjährigem Lebens- Liebes- und Künstlerpartner Adam Nankervis. Die Night Blooming Flower ist ein Motiv der innigen Verbindung der beiden, welches sich durch weite Teile Medallas Schaffen zieht. Reproduktionen von Fotografien an der Wand zeigen den Künstler und seinen Partner beim Leben und künstlerischen Schaffen, was in Medallas Selbstauffassung untrennbar miteinander verbunden ist.
Im zweiten großen Ausstellungsraum des Bonner Kunstverein ist von dem sonst üblichen white cube, der sich bekanntermaßen seit langer Zeit größter Beliebtheit in der Präsentation moderner und zeitgenössischer Kunst erfreut, dankenswerterweise nur noch wenig zu sehen. Stattdessen teilt die Ausstellungsarchitektur, die der Künstler Michael Kleine in engem Austausch mit Medallas Werk privat, ephemer und doch sehr raumgebend gestaltet hat, in Räume unterschiedlicher Atmosphäre. Ein langgezogener Gang lässt der neu nach Medallas Plänen gebauten Installation Cloud Canyons (2021) den nötigen Raum, seine Schaumgebilde voll zu entfalten und sich ständig zu verändern, sich auszubreiten und wieder zusammenzustürzen. Daneben bilden Konstruktionen intime Kabinette zu beiden Seiten einer Art Piazza, auf den Kabinetten ist durch eine Treppe eine Galerie erreichbar. Hier finden sich die fragilen, filigranen Arbeiten Medallas den nötigen Platz zur Entfaltung, die unzähligen Masken Medallas werden durch ihren eigenen Schatten an der Wand lebendig, politische Botschaften deutlich und die gezeigten Ausschnitte von Medallas Künstlerbüchern offenbaren ihren ganzen collagenhaften Charme und feinsinnigen Witz, der oft mit den konsumierbaren, westlichen Vorstellungen von Geschlecht und männlicher Schönheit spielt. Thronend über dem mittigen Platz blickt der Künstler selbst von seinem großen Gemälde A Prophecy (1989) herab, die Hände ausgebreitet und erhellt von einer Sonne in seinem Rücken, gleich einem eigenen Heiligenschein. Oben in der Galerie hängen frei im Raum vier Gemälde Medallas, sodass auch die Beschriftungen und Zeichnungen, mit denen Medalla die Rückseiten versehen hat, sichtbar werden. Auf den Vorderseiten sehen wir junge Philippiner, die romantisierten urtümlichen Arbeiten wie dem Fischen und Sammeln nachgehen, schwankend irgendwo zwischen Dekolonisierung und homoerotischer Ästhetik.

Krönender Abschluss der Ausstellung ist ein Raum, der der Schrein genannt wird. Hinter einen Vorhang wird man von Dunkelheit empfangen. Einzig beleuchtet wie eine Ikone vor einer illusionierten Apsis ist die Collage Bambi Shitting Dollars (1989). Das kleine Bild im großen Passepartout zeigt, wie der Titel schon sagt, Walt Disneys Bambi, dem David Medalla persönlich eine Dollarnote aus dem Hinterteil zieht. Ganz authentisch spiegelt die Inszenierung an diesem Punkt den Medalla so charakterisierenden ironischen Humor wider. So endet auch die begleitende Tonaufnahme einer Performance Medallas mit seinen gutgelaunten Worten: See you in Rotterdam, Ciao, Ciao!

Bambi & Co. – Medallas institutionskritischer Ansatz

Der theoretische Diskurs um die Rolle und die Bewertung von diversen Institutionen mag vermutlich schon wesentlich älter sein, besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist aber sicherlich das Zusammenspiel von theoretisch geführten Debatten und der künstlerischen, kritischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen von Kunst und Kunstinstitutionen, mit der Kunst als Institution selbst. Die erste Phase dieser Bewegung der Institutionskritik lässt sich in die 60er bis frühen 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückverfolgen. Doch was versteht man eigentlich gemeinhin unter dem Begriff Institutionskritik? Neben dem theoretischen Konstrukt ist eben diese Kunst epistemologischer Funktion gemeint, die institutionelle Orte oder auch allgemeinere kulturelle Begebenheiten analysiert und vor allem kritisiert. Mit dieser Praxis verbindet man in der ersten Phase vor allem die Namen Louise Lawler, Daniel Buren und Mel Bochner. Ihre Arbeiten richten sich gegen die autoritäre Rolle der kulturellen Institution, wollen nicht von dieser regiert, bestimmt und gebunden werden. Ihre künstlerischen Mittel dazu sind vor allem die der Konzeptkunst, äußern sich unter anderem in Minimalismus und Appropriation Art.2 3

Eine zweite Generation institutionskritischer Künstler:innen praktizierte in den 1990ern eine schon weitgehend institutionalisierte Form der Kritik. Andrea Fraser, Martin Kippenberger, Michael Asher und andere sahen es als ihre Aufgabe an, von innerhalb der Institutionen Kritik zu üben, Begriffe neu zu definieren, in Foucaults Sinne nicht derartig regiert zu werden. Es entsteht ein Bewusstsein für die eigene Rolle innerhalb der Institution, für die gesellschaftlichen Dimensionen. Reflektiert wird über Bourdieus Ideen zu Akteuren und Feldern der Kunst und der praktischen Unmöglichkeit, außerhalb dessen zu stehen. Deutlich wird, dass Institutionskritik nicht alleine stehen kann, sie ist oder sollte auch immer gleichzeitig Gesellschaftskritik und Selbstkritik sein. Die Voraussetzung zur Kritikfähigkeit ist dabei die Teilhabe am System. 4 5

Was aber hat Medalla nun mit alldem zu tun? Zunächst einmal kann man sagen, dass David Medalla in seinem über 70-jährigem Kunstschaffen häufiger mit dem, was man heute unter Institutionskritik versteht, in Berührung gekommen ist. Seine Partizipation an Projekten wie der Signals Gallery in London 1962-64, den Artists for Democracy 1974-77 oder die Gründung des Mondrian Fan Club 1994 stehen in enger geistiger Nähe zu den Institutionskritiker:innen ebenso wie seine Teilnahme an Harald Szeemanns sehr gesellschaftskritischer documenta 5.6
Medallas Kunstpraxis ist immer wieder eine Herausforderung an herrschende institutionelle Dogmen, und dass in derart vielen Facetten, wie man es wohl von kaum einem anderen Künstler oder einer anderen Künstlerin behaupten kann. Es gibt Elemente in Medallas Werk, die in meinem Verständnis geradezu klassische Institutionskritik sind – zum Beispiel seine kinetische Kunst: den Ausstellungsraum unkontrolliert mit Schlamm, Sand oder Schaum zu überfluten trifft den subtilen Humor der 90er Jahre Institutionskritik genau. Oder seine verschiedenen A Stitch in Times Arbeiten, die er durch die Jahre hinweg realisiert hat: Erschaffung, Veränderung und Weiterentwicklung von Kunstwerken durch die Partizipation der Besuchenden stellt zwangsläufig Fragen nach Autorenschaft und der Rolle bzw. der Bedeutung des Künstlers, des Publikums, der Institution – Kernfragen der Institutionskritik.

Gleichzeitig ist David Medalla aber auch wieder unendlich weit entfernt von der uns vertrauten Institutionskritik. Bestimmt schon allein durch gewisse äußere Faktoren – sein Status als Nicht-Europäer, sein nomadisches Dasein, seine Sexualität – all diese Determinanten sind so essenziell für Medallas Identität, dass seine Kunst sich in vielen Aspekten häufig wesentlich anders entwickelt als die seiner westlichen Zeitgenoss:innen. Wiederspiegeln tut sich das nicht nur in seinem teils recht plakativen Gebrauch nichtwestlicher Ästhetik und Bildsprache, seiner humorvollen Kritik an Konsum und kapitalistischem Materialismus und seinem politischen Aktivismus (zum Beispiel in seiner philippinischen Heimat). Auch grundsätzlich fern scheint Medalla der so verkopfte Konstruktivismus der institutionskritischen Konzeptkunst und der (meist) westliche Drang zur Dokumentation und Musealisierung von Kunst zu sein. Nicht ohne Grund existieren nur wenige Kunstwerke Medallas in (westlichen) musealen Sammlungen, denn ein Großteil davon waren Performances, Darstellungen aller Art wie seine Impromptus und Masken solch ephemerer Natur, dass sie nicht überdauert haben. Kunst für den Moment, mit geringsten Mitteln, zu schaffen ist ein solch vitaler Bestandteil in David Medallas Werk und seiner Selbstauffassung, dass er damit scheinbar grundsätzlich gegensätzlich auf die westliche Institution Kunst prallt – im Prinzip schon per se Institutionskritik.

Zum Schluss noch etwas über Zeitgeist

Einem solch facettenreichen Künstler in einer Übersichtsausstellung gerecht zu werden ist eine Herausforderung. Der Kunstverein löst es mit Neuauflagen der signifikanten Werke Medallas wie den Cloud Canyons, einer persönlichen Ausstellungsarchitektur sowie einer gehörigen Portion Witz. Gleichzeitig ist der Kunstverein mit dieser Präsentation aber auch selbst- und institutionskritisch. Denn der Fokus in der Gesamtübersicht der Ausstellung liegt eindeutig auf den bisher marginalisierten Aspekten in Medallas Werk. Die nur sehr schwierig konservierbaren Zeichnungen, Masken und Künstlerbücher Medallas wurden eben aus diesem Grund bisher eher übersehen. Die Aspekte der Homosexualität, die einen in der Betrachtung eigentlich geradezu anspringen, so offensichtlich sind sie, wurden bisher von einer heteronormativ geprägten Kunstwelt totgeschwiegen und verdrängt. Nun beleuchtet der Kunstverein sie mit einer Selbstverständlichkeit, die in vielen anderen Institutionen auch wünschenswert wäre. So scheint der Kunstverein mit der Ausstellung geraderecht im Zeitgeist zu liegen, wie der Künstler selbst – denn obwohl David Medalla nicht mehr unter uns weilt, steht sein vielseitiges und selbstbewusstes Leben und sein identitätsdurchtränktes, offenes Kunstschaffen ohne Zweifel für die essenziellen Dinge, die unsere Gegenwart unmittelbar bewegen.
Die Ausstellung „David Medalla: Parables of Friendship“ ist bis zum 30. Januar 2022 im Bonner Kunstverein, Hochstadenring 22, 53119 Bonn zu sehen und anschließend vom 02.04.2022-14.09.2022 im Museion, Bozen. Die Öffnungszeiten in Bonn sind Dienstag bis Sonntag von 12-18 Uhr. Der reguläre Eintritt beträgt 4 Euro, ermäßigt 2 Euro, das Booklet zur Ausstellung ist kostenlos erhältlich. Eine Publikation zur Ausstellung ist in Arbeit.

Fußnoten:

1. Fatima Hellberg und Steven Cairns: David Medalla. Parables of Friendship, Booklet zur gleichnamigen Ausstellung im Bonner Kunstverein (17.09.2021-30.01.2021), Bonn 2021..

2. Isabelle Graw: Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art, in Texte zur Kunst 59, 2005. Online verfügbar über: https://www.textezurkunst.de/59/jenseits-der-institutionskritik/#id7 (zuletzt aufgerufen am 18.10.2021).

3. Hito Steyerl: Die Institution der Kritik, in transversal texts 01, 2006. Online verfügbar über: https://transversal.at/transversal/0106/steyerl/de (zuletzt aufgerufen am 18.10.2021).

4. Michel Foucault: Was ist Kritik, Berlin 1992.

5. Pierre Bourdieu: Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Paris 1992.

6. Fatima Hellberg und Steven Cairns: David Medalla. Parables of Friendship, Booklet zur gleichnamigen Ausstellung im Bonner Kunstverein (17.09.2021-30.01.2021), Bonn 2021.