Marina Abramović: Durch Mauern gehen. Autobiografie

Die als zu groß empfundene Nase will die junge Marina Abramović sich absichtlich brechen – mit Fotografien von Brigitte Bardot in der Tasche, um sie den Ärzten als Anregung für die Richtung der eigenen Nase vorzulegen. Der Versuch misslingt, statt der Nase schlägt sie sich die Wange auf und wird von der Mutter mit einer Ohrfeige für ihr Vorhaben bestraft. Nicht nur die große Nase, auch eine grässliche Brille, altmodische Kleider und unansehnliche orthopädische Schuhe machen Abramović (*1946, Belgrad) in ihrer Jugend das Leben schwer: „Ich empfand mich als das hässlichste Mädchen der ganzen Schule.“¹
Es ist schwer zu glauben, dass dieses verunsicherte junge Mädchen einmal zu einer der bekanntesten Künstlerinnen der Performance-Kunst werden sollte, die für ihren radikalen und ausdauernden Körpereinsatz und eine beispiellose Selbstinszenierung berühmt ist. Von dieser Entwicklung der schüchternen jungen Marina, die im kommunistischen Jugoslawien zwar unter privilegierten Umständen, aber auch unter einer harten und lieblosen Erziehung aufwächst, bis zu der international beachteten Künstlerin, für deren Retrospektive The Artist is Present 2010 Hundetausende Besucher im New Yorker Museum of Modern Art stundenlang Schlange stehen, erzählt Marina Abramović in ihrer Autobiografie Durch Mauern gehen. Das 472 Seiten starke und reich bebilderte Werk erschien im letzten Jahr anlässlich des 70. Geburtstag der Künstlerin am 30. November 2016. Darin schildert sie zwar ausgiebig ihren künstlerischen Werdegang, aber reflektiert die eigenen Arbeiten weniger, als dass sie sie beschreibt. Mehr Tiefgang enthält dagegen ihre Rückschau auf die eigene spirituelle Entwicklung und insbesondere ihre Beziehungen – dem komplizierten Verhältnis zu ihren Eltern, den inspirierenden Begegnungen mit zahlreichen Künstlern und Personen des Kunst- und Kulturbetriebs und den leidenschaftlichen Liebschaften mit ihren Männern. Insbesondere der Beziehung zu ihrem langjährigen künstlerischen wie privaten Partner Frank Uwe Laysiepen, besser bekannt als Ulay, widmet sich Abramović ausführlich. Spannend erzählt sie etwa von der 4-jährigen gemeinsamen Art-Vival-Tour durch Europa Ende der 1970er in einem alten Citroën-Bus oder dem einjährigen Aufenthalt des Paares bei Aborigines in der australischen Wüste. Auch erinnert sie sich detailreich an ihre ersten künstlerischen Kooperationen mit Ulay wie Relation in Space (1976) oder Light/Dark (1977) bis zur medial aufwendig inszenierten Trennung des Paares auf der Chinesischen Mauer als Abschluss der letzten gemeinsamen Performance The Lovers - The Great Wall Walk (1988). Ursprünglich plante das Paar nach dem 90-tägigen Fußmarsch auf der Mauer bei ihrem Treffen zu heiraten. Doch lagen aufgrund von Schwierigkeiten mit den chinesischen Behörden ganze 8 Jahre zwischen dem Plan und der tatsächlichen Ausführung – 8 Jahre, in denen die Romantik zunehmenden Streitigkeiten gewichen war, sodass der Abschluss der Performance statt einer Heirat die Trennung der beiden Künstler besiegelte. Neben Ulays Untreue scheinen für Abramović vor allem die zunehmenden Differenzen während gemeinsamer Arbeiten Grund zur Trennung zu sein. Als Ulay während der gemeinsamen Performance Gold Found by the Artists (1981), bei der sich das Paar 16 Tage lang 8 Stunden täglich reglos gegenüber sitzt und von einem Tisch getrennt ist, auf dem ein goldener Bumerang, Goldnuggets und eine lebendige Schlange liegen, wegen unerträglicher Schmerzen abbricht, kann die ausdauernde Abramović kein Verständnis aufbringen. Wie sie mehrfach betont ist ihre künstlerische Arbeit ihr „heilig“ und „wichtiger als alles andere.“²
Diese eiserne, scheinbar alle Schmerzen und Ängste überwindende Ausdauer, die Abramović bei ihren Performances, in denen sie ihren Körper Eis und Feuer, Messern und geladenen Pistolen sowie kräftezehrenden Zuständen aussetzt, „trainierte“ sie rückblickend bereits unfreiwillig in jungen Jahren. Bei der Schilderung ihrer insgesamt als unglücklich empfundenen Kindheit in Jugoslawien verweist Abramović an vielen Stellen auf die prägende Wirkung, die diese Zeit für ihre künstlerische Laufbahn nehmen sollte. So schreibt sie sowohl ihren starken Migräneanfällen als auch der als kalt und streng beschriebene Erziehung und den Schlägen durch die Mutter einen Schulungszweck zu, der sie lehrte, in körperlichem Schmerz und Angst ausharren zu können. Die Erfahrung der totalen Überwindung von Schmerz beschreibt sie auch als zentralen Auslöser ihrer Verschreibung an die Performance. So erinnert sie sich an ihre auf einem Trinkspiel beruhende frühe Performance Rhythm 10, bei der sie ihre Hand auf den Boden legt und mit 10 verschiedenen Messern zwischen die gespreizten Finger sticht. Jeder schmerzerfüllte Schrei der Künstlerin bei einem Schnitt in die Finger wird von einem Tonbandgerät aufgenommen, um während eines zweiten Durchgangs der Performance abgespielt zu werden. Ein weiteres Aufnahmegerät nimmt sowohl die abgespielten Geräusche des ersten als auch die der zweiten Runde auf. Während dieses Band abgespielt wird, steht Abramović auf und geht. Bei der ersten Aufführung dieser Arbeit im Rahmen des Edinburgh Festival im Sommer 1973 habe sie die Grenzenlosigkeit des Körpers und die Nichtigkeit von Schmerz erfahren - für Abramović ein Gefühl absoluter Freiheit. In diesem Moment sei ihr bewusst geworden, dass die Perfomance „ihr“ künstlerisches Medium werden würde. Neben ähnlich kurzen rückblickenden Deutungen und Beschreibungen der eigenen Arbeiten kennzeichnen Abramovićs Autobiografie mehrfach eingestreute Berichte über übersinnliche Vorahnungen, ausgedehnte Erinnerungen an aufregende Reisen und Schilderungen zentraler spiritueller Erfahrungen. Die auffallend einfache Sprache und der leichtfüßige und plauderhafte Ton des Werks lassen die Künstlerin zwar bisweilen nahbar wirken, doch wird auch immer wieder deutlich, dass auch hier gilt: The Artist is Present.
__________________

¹ Marina Abramović mit James Kaplan: Durch Mauern gehen. Autobiografie, Luchterhand Literaturverlag, München 2016, S. 35.

² Marina Abramović mit James Kaplan: Durch Mauern gehen. Autobiografie, Luchterhand Literaturverlag, München 2016, S. 185.

Marina Abramović mit James Kaplan: Durch Mauern gehen. Autobiografie

Luchterhand Literaturverlag, München 2016

ISBN: 978-3-630-87500-2

€ 28,00 [D]