Der Thesenanschlag für das 500-jährige Jubiläum der Reformation heißt „Luther und die Avantgarde“. Über 70 Künstler-innen wurden angefragt und gebeten ihre Arbeiten in Bezug auf Kultur, Kirche und Gesellschaft an drei markanten Ausstellungsstätten zu zeigen. Ziel des von der Stiftung Kunst und Kultur initiierten Konzept-Diskurses ist es, zeitgenössische Positionen zu präsentieren, die, wie einst Luthers Thesen, avantgardistische und spannungsvolle Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft fordern. Mit den bewusst streitbaren Institutionen und eher unbekannten Ausstellungsorten gehen die Organisatoren allerdings kein großes Wagnis ein: Das instandgesetzte Alte Stadtgefängnis in der Lutherstadt Wittenberg, die evangelische Karlskirche in der documenta-Stadt Kassel und die lutherische Matthäuskirche, versunken inmitten des Berliner Kulturforums, dürfen im Jahr 2017 mit mehreren Millionen Besuchern rechnen. Das großangelegte Herzstück des Projektes bildet die Ausstellung in der Gefängnisanlage in Wittenberg, in der 65 Künstlerpersönlichkeiten, wie Ai Weiwei, Monica Bonvicini, Isa Genzken, Jonathan Meese und Erwin Wurm Gehorsamkeit und Freiheit walten lassen.
Ein Nebenschauplatz ist die Ausstellung in der lutherischen Matthäuskirche. Das neogotische Monument wirkt unscheinbar neben den weitläufigen Kultur-Arealen in Berlin. Dort präsentiert das britische Künstlerpaar Gilbert und George eine Auswahl aus der Serie „Scapegoating“ (2013). Die beiden Künstler machen keinen Hehl daraus zu betonen, wie schwer es ihnen fiel, ihre Arbeiten erstmals in einer Institution wie der Kirche, welche die Gleichberechtigung der gleichgeschlechtlich Ehe nicht anerkennt, auszustellen. Doch bei ihrer streitlustigen Performance als „living sculptures“ bei der berühmtberüchtigten Ausstellung „When Attitude Become Form“ (1969) von Harald Szeemann, demonstrierten sie schon damals, dass sie keine konzeptuelle Konfrontation scheuen. Bis heute haben Gilbert & George ihre Bildsprache beibehalten: Auf großformatigen, collagenhaften Fotomontagen stellen sich die beiden Künstler wie (über)lebensgroße Chargen dar und inszenieren sich in einem bewusst provokanten Umfeld.
In diesem Fall sind es beispielsweise ihre von kamikazeartigen Masken verdeckten Gesichter oder anonymisierte weibliche Gestalten, in unterschiedlichen Stadien der Verschleierung gekleidet, wie Jeans und Kopftuch bis hin zur Vollverschleierung. Sie vollziehen eine Konfrontation aufdringlicher und zugleich undurchdringlicher Präsenz. Das Spannungsfeld wird unmittelbar gesteigert durch den Hintergrund - ein dichter Teppich aus Gaskartuschen - und befördert ein unfreiwilliges Angstgefühl vor dem islamistischen Terrorismus. Erst auf den zweiten Blick erweist sich der Eindruck als voreiliger Schluss: Der scheinbar explosionsgefährliche Bildraum täuscht, denn es handelt sich um Lachgaskartuschen, also Behältnisse der in Großbritannien beliebten Partydroge, derer Unzählige nach einer durchzechten Nacht die Wege und Straßen Londons säumen.
Die normalerweise hell-durchfensterte Matthäuskirche Kirche ist eingeschlossen von einem Geflecht der Sündenböck-Bilder und der Präsenz derer, die dafür verantwortlich sind. Die “Scapegoating pictures” präsentieren sich wie geöffnete Diptychen, die nicht nur ihren Betrachter_innen als Teil der christlich-westlichen Gesellschaft, sondern auch die Kirche als Institution anhalten sich vor unausgesprochenen Vorurteilen, gar Ängsten, innezuhalten und auseinanderzusetzen.
Die Ausstellung in Berlin ist gewollt sensibilisierend, konzeptuell funktional und eigentlich genau das Richtige für bestimmte Besucher_innen, die dem Wert der Meinungs-, Lebens- und Religionsfreiheit scheinbar keine Bedeutung zukommen lassen beziehungsweise eine respektvolle Differenzierung zwischen Islamistischen Terror und dem Islam als Religion in der Gesellschaft scheuen – und vielleicht wäre sie in einer anderen Stadt sogar avantgardistisch.
"Luther und die Avantgarde" - SCAPEGOATING PICTURES von Gilbert & George
20.05.2017 - 17.09.2017
St. Matthäus-Kirche, Matthäikirchplatz, 10785 Berlin