Jürgen Klauke – Selbstgespräche. Zeichnungen 1970-2016

Jürgen Klauke (*1943) ist seit den 1970er-Jahren mit seinen provokativen Darstellungen von Körperlichkeit und Sexualität ein Pionier der inszenierten Fotografie, der Performance und Body-Art in Deutschland.
Existenzielle Elemente des menschlichen Daseins inspirierten den Wahl-Kölner, gesellschaftliche Normen und Gebote kritisch zu hinterfragen, bis hin zu dem Willen, diese aufzubrechen. Stetige Befragung der eigenen sexuellen Identität prägten Klaukes frühe Jahre in Bildserien wie Self-Performance (1972/73) und Dr. Müllers Sex-Shop oder So stell´ ich mir Liebe vor (1977) mit erigierten Plastikpenissen an die Brust geschnallt. Diese Themen durchsetzen Klaukes gesamtes Oeuvre, auch sein umfangreiches zeichnerisches Werk. Dieser Bestandteil seines Schaffens ist bislang weniger bekannt, wobei die neue Ausstellung im Brühler Max Ernst Museum des LVR, die von Dr. Achim Sommer, Dr. Jürgen Pech und Eva Lenhardt in Zusammenarbeit mit dem Künstler kuratiert wurde, nun Abhilfe schafft: 46 Jahre werden retrospektivisch in rund 400 Zeichnungen, Radierungen und Gouachen anschaulich.

Die Zeichnung eröffnet den Spielraum autonomer Verarbeitung der Gefühls- und Gedankenwelt, sie zeichnet sich durch Spontanität und experimentelle Freiheit aus. Verfremdung und Verschmelzung als Aspekte des Surrealismus´ begründen eine geistige Nähe von Klaukes zeichnerischem Schaffen zu dem Oeuvre von Max Ernst.

Die Tageszeichnungen (1970/71), die 1972 von Klauke selbst in dem Buch (Ich & Ich). Erotographische Tagesberichte publiziert wurden, bilden den Auftakt für die phantasiereichen Zeichenwelten. Anthropomorphe Figuren, Metamorphosen eines wiederkehrenden Zeichensystems aus detailliert ausgeführten Geschlechtsmerkmalen, Fetisch-Bekleidung, verdrehten Beinen und sogenanntem „belebten“ Schuhwerk fügen sich zusammen, um geschlechtsspezifische Grenzen zu überschreiten und sich in reiner Sexualität aufzulösen. Auf diese Weise bedingte die Zeichnung die Entstehung der selbstinszenierten Fotografien Klaukes, die wiederum auf die gezeichneten Bildwelten zurückstrahlten.

Gesellschaftliche Normen und tabuisierte Sexualität sowie die Macht, die dadurch auf Individuen ausgeübt werden kann, hat den französischen Philosophen Michel Foucault zu ähnlicher Zeit beschäftigt. In seiner berühmten, zwischen den 70er- und 80er-Jahren veröffentlichten Untersuchung „Sexualität und Wahrheit“ schrieb er bezüglich Sexualität, Körper und Identität: „Jeder Mensch soll nämlich durch den vom Sexualitätsdispositiv fixierten imaginären Punkt Zugang zu seiner Selbsterkennung haben (weil er zugleich das verborgene Element und das sinnproduzierende Prinzip ist), zur Totalität seines Körpers (weil er ein wirklicher und bedrohter Teil davon ist und überdies sein Ganzes symbolisch darstellt), zu seiner Identität (weil er an die Kraft eines Triebes die Einzigkeit der Geschichte knüpft).“

In den 1980er-Jahren erweitert Jürgen Klauke seine mediale Spannweite um Gouachen. In Stottern + Stammeln/Länglich (1992/93) erscheinen wieder die Fragen der sexuellen Identität, der weiblichen und männlichen Geschlechtlichkeit. Jedoch werden sie nun freier, ornamentaler aufgefasst und emblemartig wie schwarze Stempel oder Sequenzen eines Scherenschnitts vor den lasierten Hintergrund gesetzt.
Entlang der Cioran-Linien (2009/10) ist erneut als Zeichnungsband konzipiert. Wie bei den Tageszeichnungen werden die Blätter mit Schrift überfasst. Doch handelt es sich in dieser Serie um Aphorismen des Philosophen Emile Cioran, der u. a. das Werk Max Ernsts mit Begeisterung aufnahm und in dessen Kunst das Denken und die Reflexion physisch vergegenwärtigt sah. Gekonnt umspielte Cioran in seinen Aphorismen die Unerträglichkeit des Seins: „Das Leben entfaltet Fülle und Leere, Überschwang und Depression; was sind wir denn schon angesichts des inneren Wirbels, der uns bis zur Absurdität ausrenkt?“ Das Schreiben war für Cioran die Möglichkeit, sich mit den Unzulänglichkeiten der Gesellschaft, des Glaubens, des Lebens, ja der Existenz selbst auseinanderzusetzen, sie zu bewältigen. Diese kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und dem eigenen Sein ist Jürgen Klauke wohlbekannt. Ciorans Aphorismen konzentriert Klauke für sich und bringt sie mit Tusche auf das Papier. Als würde das Blatt ein Echo der eigenen Linien zurückwerfen, werden sie bruchstückhaft und sich verlierend wiederholt: Die Auflösung der Linie als Manifestation des Zweifels, als schweifende Suche nach einer Existenz.
Die Formensprache, die Jürgen Klauke in der Cioran-Serie und in Voces/Stimmen (2010) entwickelt hat, zieht sich auch in seine jüngste Serienfolge Körperzeichen/Zeichenkörper I-IV (2011-2016) hinein. Abermals in Buchform gebunden setzt Klauke seine stets wiederkehrende Auseinandersetzung mit Körper und Sexualität fort und verdichtet diese zu Linien und Flächen, Raum und Leere. Formal löst Klauke seine Figuren ins Ornamental-Ästhetisch auf. Das bestimmende Thema der sexuellen Identität zieht sich von seinen Tageszeichnungen bis in die Körperzeichen/Zeichenkörper . Doch obgleich eine Vielzahl seines in den 70ern begründeten Zeichensystems auch Eingang in seine jüngste Serie findet und die Metamorphose zentrales Mittel bleibt, so lösen sich die aktuellen Arbeiten mehr und mehr von dem schockierenden Moment. Klauke vollzieht einen ständigen Wechsel von ein- und ausschließender Linie, fasst den Körper mal als Positiv, mal als Negativ und auch Fragen der sexuellen Identität werden verschiedene Wertigkeiten zuerkannt: Von existenzieller Schwere über physisch manifestierte Zärtlichkeit bis zum Finden eines fragilen Gleichgewichts. Das im Max Ernst Museum Brühl zu entdeckende zeichnerische Schaffen Jürgen Klaukes umspannt Abgründe, Schmerzen, Begierden und Sehnsüchte des menschlichen Daseins.
Jürgen Klauke Selbstgespräche. Zeichnungen 1970-2016 im Max Ernst Museum Brühl.
26.03-16.07.2017
Eintritt: Erwachsene 8,50 €; ermäßigt 5 €
Das Rahmenprogramm zur Ausstellung entnehmen Sie bitte dem Le Flash Kalender.