Frucht meiner Imagination – ein Beitrag zur Kunst von Madeleine Roger-Lacan

Madeleine Roger-Lacan A sexual odyssey - made with love, nostalgia, anger, anxiety, 2024 Aquarell und Buntstift auf Papier 53 x 113 cm courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin Foto: Otto Felber, Berlin

Eine Koje voller Erotik, Ekstase, Erektion… und Katzen. Madeleine Roger-Lacan (*1993) heißt die französische Künstlerin, die als NEW POSITION auf der Art Cologne 2024 von der Galerie EIGEN + ART vertreten wurde. Eine Fachjury wählte sie neben 14 weiteren jungen Kunstschaffenden aus, um die 25 Quadratmeter mit ihrem Werk A Sexual Odyssey zu bespielen.1

Ein erster Blick in die Koje zeigt vor allem eins: Nacktheit. Nacktheit durch Sexszenen in verschiedenen Stellungen und Interieurs; Nacktheit durch erigierte und schlaffe Phalli und sich lustvoll befriedigenden Frauen2; sowie Nacktheit in Alltagsszenen. Einzelne Bilder verbinden sich zu einer Gesamtcollage und beschränken sich nicht nur auf die jeweiligen Objektträger, sondern breiten sich auf den Wänden und im Raum aus. Die Darstellung eines entblößten, ruhenden Mannes, der starr zu den Betrachtenden blickt, zieht die Besuchenden schonungslos von dem gesitteten Messe-Teppichboden in das Werk hinein. Die erotischen Szenen der Zweisamkeit werden mit Sätzen umrahmt wie „My love I am your guitar“, „Erotism is the answer to death […]“ oder „Stop being so dramatic and talk about the boys“. Und dann gibt es die Malereien von Landschaften, die auf der Koje mit violetten und grünen Farbflächen weiterlaufen, um Himmel und Erde anzudeuten. Mittendrin ist eine große schwarze Katze zu sehen – Alltagsszenen und Naturdarstellungen, die die Betrachtenden aus der Erregung ziehen.
Ist alles hier Erotik?
Es überrascht nicht, dass das Auge bei A Sexual Odyssey zuerst die sinnlichen Komponenten wahrnimmt und wohl auch nicht, dass die Alltagsszenen mit der abgebildeten Nacktheit als erotisch wahrgenommen werden. Wir halten uns an den expliziten Szenen auf, die Erinnerungen an den Akt und die zarten, erschöpften Momente danach evozieren. Hier muss der eigene Blick jedoch geschult werden: Das Werk befasst sich mit mehr als sexuellen Handlungen und weist eine inhaltliche Komplexität auf. Roger-Lacan beschreibt es auf ihrem Instagram-Kanal als spielerisches Tagebuch, das eine fröhliche Fantasie zelebriere, während es die Freiheit und Sexualität der Frau repräsentiere.3 Die Arbeit sei dennoch nicht autobiografisch gemeint. Sie nutze zwar ihre Erfahrungen, interessiere sich aber für den menschlichen Geist an sich und das, was er in seiner Odyssey durchlebt. Gleichzeitig verhandelt sie Zustände, die sie nicht versteht: Verlangen, soziale Interaktionen, Tod und die Macht der Imagination. Die Idee zum Werk entstand bereits Anfang des Jahres mit einer ‚Landkarte‘, die sie zur Auseinandersetzung mit ihren Gedanken und Gefühlen anfertigte „[…] to release an energy“.4 Die Auswahl aus den vielen kleinen Arbeiten stellen Fragmente des intimen Lebens dar, darunter Sehnsüchte, ausgelebte Freiheiten und Gedanken an Beziehungen. Diese kombinieren sich mit Szenen des Todes, die im ersten Moment mit dem Wortspiel „la petite mort“ assoziiert werden. Stattdessen bilden sie die existenzielle Angst vor dem Tod und der Leere ab, die die Künstlerin mit dem Zeigen lebenserfüllender Motivik durchbricht. Die Blickrichtung von A Sexual Odyssey zieht sich zur Bildmitte als Ankerpunkt zusammen, die von dem Werktitel und einem großen Herz aus Linien gekrönt wird. Mittig davon ein Porträt, dessen Mund einen Phallus umspielt. Zwischen den Linien finden sich Worte und Sätze – davon beschreiben „sweet memories“ und „movies in my mind“ die Flucht von diesen Ängsten durch die Gedankenwelt – ein Element, das sich durch ihre Arbeiten zieht. Den Begriff der Erotik zur Beschreibung ihrer Werke lehnt Roger-Lacan nicht völlig ab, beschreibt diese jedoch eher als sinnlich-befreiend. Sie ziele nicht per se auf den sexuellen Akt ab, sondern auf die Bedeutung der Libido, unter der sie Gefühle des Begehrens, der Leidenschaft und der Impulsivität verstehe.5 Dabei beschäftigen sie nachhaltig die Gründe und Reize, die uns lebendig fühlen lassen. Dessen Überlegungen stellt sie durch Farben, Fantasien über den eigenen und fremden Körper sowie popkulturelle Alltagsobjekte dar - ein Zusammenspiel zwischen Erinnerungen und Erfahrungen, die dieses Gefühl hervorbringen können.
Mon sexe est mon coeur
Die Komposition aus dem Herz, dem Porträt und den Genitalien wird im Werk Baubô (2022) aufgegriffen. Es zeigt zwei nackte Beine, die von einer schwarzen Lache gerahmt werden. Der Oberkörper wurde vollständig ausgelassen und statt des Bauches findet sich der Ansatz eines Porträts einer blonden Figur, die der Künstlerin ähnelt. Ein rotes Herz flankiert ihren Mund, der nur knapp über der Vulva liegt. Baubô ist eine Dienerin aus der griechischen Mythologie, die Demeter tröstet, nachdem sie ihr Kind Persephone an Hades verloren hatte. In einigen Erzählungen schafft sie dies mit der Entblößung ihrer Vulva, was Demeter schließlich wieder Freude bringt. Für Roger-Lacan ist sie eine besondere Figur, die die Erzählung von Adam und Eva umkehrt. Statt ihr Geschlecht zu verstecken, präsentiert sie es fast stolz und führt eine weibliche, lustvolle Lebenskraft vor: „I fell in love with Baubô when I saw the 2500 years old sculptures representing this half-woman with a face in her belly, a cheeky hat, a vulva that is also a dimple and her soft round legs.“6 Die schwarze Lache, für die Lack verwendet wurde, ist reflektierend und stellt eine Verbindung zwischen dem Werk und den Betrachtenden her, was Raum zum Nachdenken und Eintauchen lässt. Die Lache kann gleichzeitig als Spiegel der Kunst von Roger-Lacan verstanden werden, da andere Werke auf diesem aufbauen. Zugleich betont es die Vitalität und die damit verbundene Sexualität als zentrales Thema ihres Schaffens. So fügt sie dem Werktitel mon sexe est mon coeur hinzu, der einen Bezug zur Künstlerin sowie zur Bildmitte von A Sexual Odyssey schafft.
Begierde und Verletzlichkeit
Als Inspiration für Roger-Lacans Arbeiten gelten einige Modernist*innen wie Henri Matisse (1869 – 1954), Alina Szapocznikow (1926 – 1943) oder Niki de Saint Phalle (1930 – 2002), wie auch zeitgenössische Kunstschaffende, die sich mit dem Körper als Motiv auseinandersetzen. Darunter Tracey Emin (*1963), die ihre intimen, sexuellen Erlebnisse und sozialen Beziehungen herausstellt. Den Betrachtenden offenbart sie dabei eine höchst verletzliche Seite. Roger-Lacan begibt sich durch die nackten Darstellungen ebenfalls in eine vulnerable Position, wobei sie die Schamhaftigkeit des nackt-Seins und das sexuelle Tabu durchbrechen möchte. Sie zeigt sich hingegen im Kontext freundschaftlicher und sexueller Beziehungen verletzlich. Hierfür ist It was a nice movie (2022) beispielhaft, das den Ablauf einer zum Scheitern verurteilten Partnerschaft hervorhebt. In der Bildmitte steht ein Liebespaar, während Motive des Glücks, der Liebe und der Trauer um sie herum angeordnet sind. Laut der Künstlerin verdeutlichen die Motive eine leidenschaftliche und zugleich schmerzhafte Beziehung, die den Prozess des Zusammenkommens, des reflektierten Zurücktretens und schließlich des Loslassens beinhaltet. Die Komposition wirkt wie die eines Filmplakats, die die Dramaturgie der Geschichte visualisiert. Die scheinbar willkürliche Anordnung der Elemente wird auch bei A Sexual Odyssey bedient und erinnert stark an die Formsprache des Surrealismus. Roger-Lacan fasziniert an der Kunstströmung die unterbewussten Begierden, die durch Körper und Körperfragmente betont werden. Ebendiese Begierden werden auch von Roger-Lacan verdeutlicht, sie zeigt hierfür aber nicht nur den Körper des anderen Geschlechts, sondern stellt sich selbst in Beziehung zu ihnen.
Body Awareness and the female gaze
Roger-Lacans Vorbilder überlappen sich mit ihr durch die Darstellung des Körpers und des sexuellen Bewusstseins. Dabei stellen diese den weiblichen Körper – oftmals ihren eigenen – in den Mittelpunkt. Die polnische Bildhauerin Alina Szapocznikow fertigte Abgüsse von sich an, die sie mit farblichen Ergänzungen erotisierte. Die Körper sind in einigen Arbeiten reduziert und abstrahiert, sodass nur die weichen Formen und die immer wiederkehrenden Lippen ein weibliches Körperbild symbolisieren. Tatsächlich finden sich in einigen Werken von Roger-Lacan rot-rosa Lippen, die meist losgelöst vom Rest des Körpers mit fremden Körperteilen in Kontext gesetzt werden. Niki de Saint Phalle propagiert die weibliche Selbstbestimmung durch ihre überdimensionalen Skulpturen, die Stärke und Freiheit zeigen und gegen das typische westliches Körperbild der Frau arbeiten – einen Aspekt des Feminismus, den auch Maria Lassnig (1919 – 2014) bedient. Sie gilt als große Inspiration für Roger-Lacan, die für ihre farblich reichen Selbstporträts bekannt ist. Die Farben vermitteln innere Körperwahrnehmungen und Emotionen, die zugleich ernst wie erheiternd wirken. Sie hält dabei Zwiesprache mit ihren Gefühlswelten und der Realität, in der sie lebt. Diese Werke deklariert sie zu Body Awareness Paintings. Das Konzept der Body Awareness à la Maria Lassnig, in der sie „[…] eine neue Annäherung an die Realität mit bildkünstlerischen Mittel […]“ versucht, beschäftigt Roger-Lacan nachhaltig. Einige Arbeiten von Lassnig zeigen ihren fragmentierten Körper – Teile, die sie bewusst wahrnimmt und auf den Malgrund überträgt. Bei Roger-Lacan findet das Übertragen des Körperbewusstseins anders als bei Lassnig nicht im gegenwärtigen Moment statt, sondern durch ihre Erinnerungen an vergangene Momente. Sie thematisiert weibliche und männliche Körper gleichermaßen, zeigt davon aber nur den männlichen explizit und setzt einen Fokus auf das Geschlecht. Dabei erinnert sie an den Male Gaze, den sie umkehrt und aus der Sicht einer heterosexuellen weiblichen Perspektive darstellt. Die befreite weibliche Sexualität wird, anders als in der beispielhaften feministischen Kunstströmung seit den 1960er Jahren, nicht durch das explizite Zeigen des weiblichen Körpers oder des Geschlechts repräsentiert, sondern mehr noch durch das nicht-zeigen. Hierdurch entzieht sie die weibliche Nacktheit ihrem Politikum. Der Ausdruck der Begierde wird zudem nicht nur durch den männlichen Körper allein vermittelt, sondern durch das körperliche Zusammenkommen von Mann und Frau. In A Sexual Odyssey sticht der lustvolle gemeinsame Akt hervor, der in It was a nice movie in der Bildmitte erst zu beginnen scheint. Die zwei abgebildeten Körper werden beide en profil gezeigt, von denen die Frau direkt zu den Betrachtenden schaut. Sie gibt ihre Körperrundungen preis, während alles andere verborgen bleibt. Im Gegensatz zur männlichen Figur tritt sie durch ihre Größe und das Zeigen ihres Gesichts in den Vordergrund. Der Mann tritt durch die schmale Figur beinahe vollständig zurück. Sein Gesicht wird nicht preisgegeben und verschwindet mit dem Küssen ihres Halses. Das Werk lenkt den Blick von dem begehrten männlichen Körper zurück zu ihrem, was ihre persönlichen Fantasien und Erinnerungen gesamtheitlich für ihr Werk widerspiegelt und sie den Betrachtenden als 'Frucht [ihrer] Imagination' unverhohlen offenbart.
Madeleine Roger-Lacan (*1993) ist eine französische Künstlerin, die an der Ecole Nationale Supérieure des Beaux Arts bei Tim Eitel studiert hat. Ihre Werke bestehen überwiegend aus Malereien, während sie sich allmählich anderen Medien zuwendet. Sie lebt und arbeitet in Paris und wird seit 2021 von der Galerie EIGEN + ART in Berlin vertreten.
Fußnoten

1. Bundesverband Deutscher Galerien und Kunsthändler e.V.

2. Da Roger-Lacans Arbeit auf ihre Person und männlichen Figuren verweist, werden die Begriffe Frau und Mann verwendet anstatt einer inklusiven Begrifflichkeit.

3. Vgl. Instagram: Madeleine Roger-Lacan, @madeleinerogerlacan.

4. Vgl. Auszug aus einem schriftlichen Interview mit Roger-Lacan am 23.11.2024.

5. Vgl. ebd.

6. Ebd.


Literatur

Bundesverband Deutscher Galerien und Kunsthändler e.V: New Positions auf der Art Cologne 2024, 01.11.2024 (https://www.bvdg.de/pressemitteilung_NEW_POSITIONS_2024 zuletzt aufgerufen am 21.11.2024).

Instagram: Madeleine Roger-Lacan @madeleinerogerlacan, A Sexual Odyssey (Highlight) (https://www.instagram.com/madeleinerogerlacan/ zuletzt aufgerufen am 03.12.2024).

Introduction to Tracey Emin. A closer look at the life and work of the influential British artist Tracey Emin, o.D. (https://www.tate.org.uk/art/artists/tracey-emin-2590/introduction zuletzt aufgerufen am 03.12.2024).

Maria Lassnig – Zwiegespräche. Retrospektive der Zeichnungen und Aquarelle, hg. von Antonia Hoerschelmann et al. (Ausst.-Kat. Albertina Wien 05. Mai – 27. August 2017; Wien, Kunstmuseum Basel 12. Mai – 26. August 2018; Basel, München 2017.

Maria Lassnig. Verschiedene Arten zu sein, hg. von Kunsthaus Zürich (Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, 28. Novemeber 2003 – 29. Februar 2004), Zürich 2003.

Schriftliches Interview zwischen Madeleine Roger-Lacan und Leonie C. Pietrovicci am 23.11.2024.