Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit.

1 Die Suche nach Identitäten

Mit der Ausstellung Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit im Ludwig Forum Aachen trafen die Kuratoren Angela Theisen und Patrick C. Haas den Nerv der Zeit. Präsentiert wurden zeitgenössische Werke der Sammlung des Ludwig Forums sowie eingeladener Künst-ler:innen, die sich allesamt mit dem Themenkomplex Identität beschäftigen. In Zeiten von Black Lives Matter, Fridays for Future und zahlreichen Genderdebatten wird deutlich, was für eine enorme Bedeutung unsere eigene Identität für jeden von uns besitzt. Wir alle stel-len uns die Frage, wer wir sind und was uns ausmacht. Was ist meine Identität? Diese Fra-ge ist jedoch viel komplexer, als man denkt. Und genau an dieser Stelle setzte die Ausstel-lung an.
Zu Beginn der Ausstellung wurden die Besucher:innen mit der Suche nach Identität kon-frontiert. Der Philosoph Kwame Anthony Appiah, dessen Publikation Identitäten. Fiktionen der Zugehörigkeit (2019) den Untertitel für die Ausstellung lieferte, setzt sich intensiv mit dem Thema auseinander. Nach Appiah seien Identitäten sozialer Natur und jeder von uns besitzt mehrere. Die Quellen unserer Identitäten können ganz unterschiedlich sein. Trotz dieser Verschiedenheit gebe es doch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Zunächst gehe Identität immer auch mit Kategorisierung einher. Das bedeutet, dass wir andere Menschen immer unterschiedlichen Kategorien, zum Beispiel dem Geschlecht, zuordnen, bewusst oder auch unbewusst. Eine weitere Gemeinsamkeit sei, dass sie für uns als Menschen bedeut-sam sind. Unsere Identitäten zeigen unsere Position in der sozialen Welt an und geben uns ein Gefühl von Zugehörigkeit. Damit gehen auch Konzepte wie Ideale oder Solidarität ein-her. Zuletzt, so Appiah, diene die Identität als Grundlage für Hierarchien, für Respekt und für die Festigung von Machtstrukturen.1 Kategorien, Klischees und Vorstellungen über richtiges Verhalten gehören demnach zu jeder Identität. Unsere Identitäten sind vielfältig, fluide und können in komplizierter Weise miteinander interagieren. Auch wenn sie nicht beliebig aufgezwungen werden können, könne man die Identität allerdings auch nicht so gestalten, wie man möchte.2 Ein Werk, welches sich ganz besonders mit der Suche nach Identität beschäftigt, ist Robert Morris Installation Untitled aus dem Jahr 1978. Durch den geschwungenen Spiegel wird das Abbild der betrachtenden Person verzerrt und mit jeder Bewegung verändert es sich wieder. Das verzerrte und sich stetig ändernde Spiegelbild kann zum einen als fluider Charakter unserer Identitäten gedeutet werden. Es zeigt aber auch unsere Interaktion mit der Umwelt, die notwendig ist, um unsere Identität überhaupt erst ausbilden zu können.
Im weiteren Verlauf lud die Ausstellung dazu ein sich der Konstruktion und Fiktion von Identitäten ausführlicher zu nähern. Dies erfolgte in separaten Räumen mit den Themen Kultur, Sprache, Herkunft, Persönlichkeit, Tod und Gender. Unterschiedlichste Aspekte, unter anderem auch Stereotype, gesellschaftliche Toleranz und Diversität sowie Rassismus und Diskriminierung, wurden durch die künstlerischen Auseinandersetzungen kritisch analy-siert und hinterfragt. Viele der ausgestellten Werke traten in Dialog miteinander.

2 Eine Plattform für mehr Diversität

Wie man vorher in der kurzen Auseinandersetzung mit Identitäten sehen konnte, ordnet sich ein jeder von uns unterschiedlichen Feldern, wie sie der Soziologe Pierre Bourdieu nennt, zu. Diese Felder beziehen sich jedoch nicht nur auf Aspekte, die uns als Individuen betreffen, sondern auch auf die Kunst, Ökonomie, Religion etc. So gibt es beispielsweise auch das Kunstfeld, welches dann alles von Kunstinteressierten über Mitarbeiter:innen ei-ner Galerie bis hin zu den Institutionen selbst mit einbegreift. Wenn man sich einem Feld zuordnet, dann regle dieses unter anderem die Verhaltensweisen und Vorstellungen aller Akteur:innen. Gleichzeitig biete das Feld seinen Akteur:innen aber auch die Verwirklichung von Wünschen. Bourdieu sowie die Künstlerin Andrea Fraser sind der Meinung, dass das gesamte Kunstfeld und seine Akteur:innen den Wert eines Kunstwerks mitbestimmen. Ihnen zufolge existiere Kunst als ein Objekt mit Wert nur dann, wenn es als Kunstwerk an-erkannt und auch als solches konsumiert wird.3 Das heißt, dass jede:r Akteur:in der Institution Kunst, egal ob Kurator:in oder Besucher:in, die Möglichkeit hat auf das, was in den zahlreichen Kunstinstitutionen ausgestellt wird, ein-zuwirken. Jeder von uns kann mitbestimmen, welche Dinge diskutiert werden. Andrea Fraser geht sogar so weit zu behaupten, dass wir alle die Institution sind, sie ist ein Teil von uns.4 Das bedeutet zugleich auch, dass wir nicht nur die Möglichkeit haben mitzubestimmen, sondern sogar Verantwortung für das tragen, was im Feld der Kunst ausgestellt und thema-tisiert wird. Aus diesem Grund liege es somit auch an uns, welche Werte institutionalisiert werden.
Außerdem, so Fraser, kann man als Akteur:in des Kunstfelds dieses nie verlassen. Alles was man machen kann, ist, dessen Rahmen zu erweitern, indem man mehr Aspekte von der Welt, also von dem, was außerhalb liegt, in das Feld hereinholt.5 Durch die Ausstellung hat sich das Ludwig Forum dazu entschieden, dem Themenkomplex Identitäten und allen dazugehörigen Aspekten und Problemen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die ausgestellten Werke repräsentierten ein breites Spektrum an künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema. So wurde auch die Komplexität desselben deutlich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Allein im Bereich Kultur waren zwei Werke ausgestellt, die unterschiedlicher nicht sein konnten. María Magdalena Campos-Pons hinterfragt in ihrem Werk Alternativen für den Mythos: Leda denkt (1989) die oftmals verherrlichenden mytholo-gischen Darstellungen in der Kunstgeschichte. Melike Karas Werk mother of mother of mother (2021) hingegen thematisiert die Bräuche und Traditionen, die ihre Großmutter als Ehefrau eines Schamanen in ihre Familie gebracht hat, welche Karas Verständnis über ihre eigene Identität stark geprägt haben. Die Ausstellung lieferte somit einen möglichen An-satz, um den Rahmen des Kunstfelds noch weiter auszudehnen und die Institution Kunst immer diverser zu gestalten.
Auch wenn in Sweet Lies viele Perspektiven unterschiedlichster Menschen repräsentiert waren, stellt sich die Frage, wie viel das allein bewirkt. Es handelte sich wohl eher um eine, wie die Künstlerin Hito Steyerl es bezeichnete, „symbolische Integration“6 und Repräsentation von beispielsweise Minderheiten. Doch was ist mit politischen und sozi-alen Ungleichheiten? Solche Probleme werden sich nicht bessern, nur weil Institutionen sich dazu entscheiden, die Aufmerksamkeit des Publikums auf ein bestimmtes Thema zu lenken. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass es solche Ausstellungen gibt und dass wir als Besu-cher:innen diese besuchen. Auch wenn die Präsentation eher oberflächlich stattfindet, hilft es dabei ein Bewusstsein für Derartiges zu schaffen, damit sich diese Problematik zumin-dest nach und nach einen Weg in das Blickfeld der Gesellschaft bahnt.
Zuletzt sei zu sagen, dass das Ludwig Forum durch die Präsentation eines Werks von Chuck Close einen großen Teil der Kunstwelt kritisierte, sich selbst aber auch in eine an-greifbare Position brachte. Viele Kunstinstitutionen schrecken nämlich davor zurück Close auszustellen, nachdem im Jahr 2017 Vorwürfe gegen den Künstler wegen sexuellen Fehl-verhaltens laut wurden und er seitdem als eine umstrittene Persönlichkeit gilt.7 In dem Blog zur Ausstellung des Ludwig Forums wurde die Frage in den Raum gestellt, was die Kunstwelt mit einer solchen Form der Selbstzensur erreichen möchte. Direkt danach machte das Ludwig Forum ihre Meinung zu dieser Zensur deutlich:
Wer Bilder ungeschehen macht, weicht der Diskussion über sie und ihre Schöpfer*innen aus. Dadurch wird eine Realität negiert, die in der Vergangenheit zum Erfolg von ungleicher Macht-verteilung und verschiedenen Formen von Diskriminierung geführt hat. Man gibt die Möglichkeit auf, diese Machtstrukturen offenzulegen und zu hinterfragen.8

3 Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Ausstellung Sweet Lies. Fiktionen der Zuge-hörigkeit ein bewundernswertes Beispiel dafür war, wie man den Rahmen der Institution Kunst immer weiter ausdehnen kann, indem man mehr von der Welt in ihn hineinholt. Prä-sentiert wurde eine Fülle an unterschiedlichen künstlerischen Positionen und Themenberei-chen. Auch wenn nur einige wenige identitätsbildende Aspekte thematisiert wurden, bekam man einen umfassenden Eindruck über die Komplexität unserer Identitäten. Durch den Aus-tausch mit anderen Kulturen, Gendern, Sprachen und Persönlichkeiten regte der Besuch zum Nachdenken und Reflektieren über das eigene Selbst- und Fremdbild an. Man könnte die Ausstellung noch unendlich weiter ergänzen und daran anknüpfen, um den Themen-komplex Identitäten noch weiter zu untersuchen. Begleitend zur Ausstellung wurde ein On-line-Blog erstellt, in dem weiterführende Informationen zu den Räumen und den Kunstwer-ken sowie ein Glossar und eine Liste an empfehlenswerter Literatur, Podcasts usw. zu fin-den sind. Der Blog ist immer noch online – ein Blick lohnt sich allemal! (https://sweetlies.ludwigforum.de )
Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit war vom 19.06.–12.09.2021 im Ludwig Forum Aachen zu sehen.
Kuratiert von Patrick C. Haas und Angela Theisen.
Ausgestellt waren Werke von insgesamt 34 Künstler:innen, dazu gehören unter anderem Vivian Greven, Melike Kara, Markues, Phung-Tien Phan, Theresa Weber, Raphael Weilguni und Viola Relle, Jo Baer, Jean-Michel Basquiat, María Magdalena Campos-Pons, Chuck Close, Erró, Johannes Grützke, Jean-Olivier Hucleux, Thomas Lanigan-Schmidt, Liang Dong, Roy Lichtenstein, Robert Morris, Robert Rauschenberg, Ulrike Rosenbach, Twins Seven Seven und Sergej E. Volkov.
Ludwig Forum für Internationale Kunst
Jülicher Straße 97–109
52070 Aachen

Fußnoten:

1. Vgl. Appiah, Kwame Anthony: Identitäten. Fiktionen der Zugehörigkeit, München 2019, 21-31.

2. Vgl. ebd., 40-43.

3. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literari-schen Feldes, Frankfurt am Main 1999, 361 f. und Fraser, Andrea: From the Critique of Institutions to an Institution of Critique, in: Artforum Sept. (2005), 280.

4. Vgl. Fraser 2005, 283.

5. Vgl. ebd., 282 f.

6. Steyerl, Hito: Die Institution der Kritik, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 31 (2007), 76.

7. Vgl. bspw. den Medienbericht „Frauen werfen Künstler Chuck Close sexuelles Fehlverhalten vor“ von Monopol. Magazin für Kunst und Leben vom 20.12.2017, URL: https://www.monopol-magazin.de/frauen-werfen-kuenstler-chuck-close-sexuelles-fehlverhalten (08.12.2021).

8. Eintrag: Chuck Close, Richard (1969), Online-Blog zur Ausstellung Sweet Lies. Fiktionen der Zugehörigkeit des Ludwig Fo-rums Aachen, URL: https://sweetlies.ludwigforum.de/close/ (08.12.2021).

9. Gerald Raunig: Fliehen, Instituieren, Transformieren, 2006.