"Documenta. Politik und Kunst" im Deutschen Historischen Museum
Bröckelt der Sockel nur oder ist er schon einsturzgefährdet? „Braune Schatten über der documenta in Kassel“ titelt die Deutschen Welle ¹, die Süddeutsche Zeitung schreibt von „Trümmern eines Mythos“ ² - Seit der Historiker Carlo Gentile im Frühjahr 2021 die aktive SA-Mitgliedschaft Werner Haftmanns, des hinter Arnold Bodes wohl wichtigsten Mitorganisators der documenta, publik machte, sieht sich die prägendste Kunstausstellung der Gegenwart mit unangenehmen Fragen konfrontiert. Was waren Werte und Ziele in den documenta-Anfangsjahren? Und wie passte das mit einer Beschäftigung Haftmanns zusammen?
Das deutsche Zentrum der Gegenwartskunst im 20. Jahrhunderts bietet nun also dringenden Anlass für eine kritische Betrachtung. Es sind zugegebenermaßen keine ganz neue Fragen, die durch Carlo Gentiles Entdeckungen in diesem Jahr eine neue Drastik bekommen haben. Doch sind sie umso relevanter, da ihr Inhalt – die verschwiegenen NS-Kontinuitäten der jungen Bundesrepublik – in das allgemeine Verständnis der documenta noch aufgenommen werden müssen, hängt davon doch nicht nur das Bild einer renommierten Institution für zeitgenössische Kunst, sondern auch die unmittelbar mit der Schau verwobene Bewertung und Kanonisierung dieser Zeit zusammen.
Raumansicht „documenta. Politik und Kunst“ © DHM/David von Becker
Bis zum 9. Januar 2022 widmet sich die Ausstellung „Documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM) diesen Themen und untersucht die vielfältigen Formen politischer Verstrickungen in der Geschichte der Kasseler Schau – denn so viel sei vorweg gesagt: Im Titel wird nicht ohne Grund die Politik zuerst genannt. Dass sich Kunst und Politik auf der documenta tangieren, wird schon bei näherer Betrachtung der Konstituierung der ersten Ausgabe 1955 deutlich, mit der Bode in der erst sechs Jahre zuvor gegründeten BRD versuchte, von der NS-Kulturpolitik diffamierte Kunst zu rehabilitieren. Die Schau soll „illustrieren, wie die documenta als Kunstereignis und zugleich als historischer Ort politisch sozialen Wandel kommentiert, einfordert und widerspiegelt.“, heißt es im Flyer. Der große Zeitraum von 1955 bis zur zehnten documenta (1997), in dem für das 20. Jahrhundert untersucht werden soll, „wie auf der documenta Politik gemacht wurde“, macht die Aufgabe zu einem umfangreichen Unterfangen. Gelingt es?
Raumansicht der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ © DHM/David von Becker
Werner Haftmann und Arnold Bode bei der Eröff nungsfeier der documenta 3, 1964 documenta archiv © Wolfgang Haut, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ein streitbarer Beginn
Im DHM erstreckt sich die Ausstellung über zwei Etagen. In zackigen Linien schlängelt sich ein Parcour durch die im weißen Archiv-Look gehaltene Ausstellungsarchitektur voller Streben und Gerüste. Eine gelungene Gestaltung, die der Informationsfülle zurückhaltend gerecht wird. Einzig die zwischen den Aufbauten ausgestellten Kunstwerke gehen unter – Schade, aber in einer Ausstellung, in der nicht einzelne Arbeiten, sondern ihre Präsentation auf der documenta im Fokus steht, am Ende wahrscheinlich symptomatisch.
Aufgeteilt in zwei große Themenblöcke – die personell-strukturelle und künstlerisch-formale Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die vielfältigen Konflikte und Reibungspunkte zwischen Ost und West – beginnt die Schau zuallererst mit einer steckbriefartigen Vorstellung aller im 20. Jahrhundert stattgefundenen documentas. Wer, Was, Wann – die kurz und verständlich gehaltenen Informationen rufen den Besucher*innen vor allem den zeitgeschichtlichen Kontext in Erinnerung. Schon hier stellen die Ausstellungsmacher*innen Parallelen in der Entwicklung von Politik und Kunstschau in den Vordergrund: Die fünfte documenta 1972 wird beispielsweise als stärker politisiert charakterisiert – und gleichzeitig dem Aufstieg der RAF gegenüber gestellt. Gibt es also zu jeder gesellschaftlichen Stimmungslage, zu jeder historischen Debatte eine Ausstellungspendant? Kriegt jede Zeit die documenta, die sie verdient?
Die Geschichte der Gründung der ersten documenta (1955), deren Motive und Entwicklungen im Zentrum des ersten Kapitels stehen, beginnt 1954 mit dem Herantreten Arnold Bodes an das Bundesinnenministerium. Das ausgestellte Briefstück, mit dem die Idee einer erstmalig auf deutschem Boden stattfindenden Übersichtsausstellung zeitgenössischer Kunst vorgestellt wird, offenbart eindeutig seine Intention. Und die ist natürlich politisch aussagekräftig. Bode schlägt vor den Standort Kassel am „Zonenrandgebiet“ auszunutzen, um den „Gedanken einer gemeinsamen europäischen Kunst im Zeichen der Europa-Bewegung“ an der DDR-Grenze stärker zu vermitteln. Schon in der Frühphase des Kalten Krieges lässt sich hier das westliche Interesse einer grenznahen Machtdemonstration erkennen. Und auch die im Brief noch vage als „Kunst im Zeichen der Europa-Bewegung“ formulierte Vorstellung der zu präsentierenden Werke entpuppt sich als hauptsächlich von deutschen, französischen und italienischen Künstler*innen geschaffen. Die Trennung von Ost und West, die im zweiten Kapitel den größten Teil der Schau einnehmen wird, ist, so wird es vermittelt, anfänglicher Bestandteil der documenta. Ausnahmen wie Adam Marczynskis „Kompozycja (Komposition)“, die nur durchgingen, da sie den „westlichen Stilvorstellungen entsprachen“, gibt es kaum.
Es sind interessante Aspekte, die jedoch in der gängigsten Lesart der ersten documenta als die verfemte Moderne rehabilitierend oft in den Hintergrund geraten. Doch natürlich darf dieser Gedanke in einer solchen Ausstellung nicht fehlen: Anhand von niederschwellig erklärten Begriffen wie „Innere Emigration“, „Erinnerungspolitik“ und „-kultur“ wird sich im DHM recht stark an einzelnen Persönlichkeiten wie dem Eingangs erwähnten Werner Haftmann festgehalten, der in seiner die Kasseler Schau vorbereitenden Schrift „documenta. Die Kunst des XX. Jahrhunderts“ zwar einerseits die ehemals als entartet gebrandmarkten Werke feierte und in der BRD etablierte, dabei aber andererseits rassisch und politisch Verfolgte systematisch ausließ. So etwa auch den jüdischen Maler Rudolf Levy, dem in einer Ecke der Ausstellung mehrere Stellwände zur Präsentation seiner Arbeiten überlassen werden. Levy, ein expressionistischer Künstler, der 1944 auf dem Weg nach Auschwitz ums Leben kam, wurde bei der Künstlerauswahl der documenta übergangen. Neben Lehmbrucks „Kniender“, die einst in München auf der „Entartete Kunst“-Ausstellung gezeigt und in prominenter Platzierung in Kassel zum zeitgeschichtlichen Symbol für die von der jungen BRD angestrebte Wiedergutmachung wurde und Marczynskis die formalen Auswahlkriterien von Bode und Co. verdeutlichender Malerei, nehmen die fünf Gemälde Levys eine besondere Rolle in der Ausstellung und ihrem Umgang mit Geschichte ein: Es wirkt als ob die für den ersten Ausstellungsteil verantwortliche Kuratorin Julia Voss hier den wissenschaftlich-aufklärenden Charakter verlässt und in die Geschichte eingreift. Voss lässt so etwas wie späte Gerechtigkeit walten und erschafft zwischen den weißen Metallgittern eine winzige Gegen-documenta. Der nie auf der documenta vertretene Levy bekommt in einer documenta-Ausstellung den meisten Raum aller historischen Künstler. Anstatt nur aufklärend über Levys Schicksal zu berichten, lässt sich Voss kritische Intervention gegenüber der documenta nach Foucault als „gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin“ ³ begreifen. Statt die Auswahlmechanismen als Ganzes in Frage zustellen, verortet sie sie vielmehr in ihrer Zeit und erklärt die Entscheidung, Levy nicht zu zeigen, mit dem Wunsch nach einer möglichst unpolitischen Außenwirkung – ein Wunsch, der die Parallelen zwischen documenta und Politik in der deutschen Nachkriegszeit offenbart. Der Anspruch der documenta, eine Schau zu konzipieren, die öffentlich präsentiert, „welche Werke bzw. künstlerische Gesinnungen die Grundlage bilden für den Begriff ‚Kunst der Gegenwart in Europa‘“, wie es bei Bode heißt, wird partnerschaftlich akzeptiert und die über die Jahre gesammelten Erfolge der documenta anerkannt und gewürdigt. Als Widersacherin offenbart Voss allerdings auch genau jene Fehlstellen, die dadurch entstanden waren, dass durch den Verzicht auf die Präsentation eines durch das NS-Regime ermordeten Künstlers eine über die kunsthistorische Rehabilitierung hinausgehende Wiedergutmachung versäumt wurde. Die Kuratorin präsentiert die fragwürdig-unpolitische documenta als ein Symptom ihrer nach Vergessen lechzenden Zeit und holt sie mit ihrer einen verspäteten Ausgleich schaffenden Intervention in die Jetzt-Zeit. Es ist nicht die Ausbreitung der Haftmannschen Unrechtsvergangenheit, die den kritischen Aspekt dieses Kapitels ausmacht. Vielmehr ist es Voss die historische Künstlerauswahl erweiternde Ausstellungsergänzung, die als kritisch, da produktiv weiterentwickelnd auffällt. ⁴
Rudolf Levy (1875 – 1944), Selbstbildnis IV, 1943 © Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern (mpk), Foto: Gunther Balzer
Raumansicht „documenta. Politik und Kunst“ © DHM/David von Becker
Diplomatie und Kunst
Auf die genaue Vorstellung der ersten documenta-Ausgabe folgt ein großes und leider eine ordnende Chronologie vermissen lassendes Kapitel zu den vielfältigen Formen, in denen sich der politische Konflikt zwischen Ost und West (BRD und DDR, USA und Sowjetunion) in der Geschichte der Kasseler Großausstellung geäußert hat. Ein grober roter Faden verbindet die documenta 2 und ihre herausgehobene Präsentation US-amerikanischer Kunst mit späteren innerdeutschen Konflikten um die fünfte und sechste documenta und behält dabei immer das politische Engagement von staatlicher Seite aus im Blick.
Die konträren Ideologien von Ost und West, die sich auch im für die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts wohl wichtigsten Dualismus von Figuration und Abstraktion widerspiegeln, sind schon immer Teil der documenta-Geschichte. Sie äußern sich erstmals diplomatisch im Rahmen der zweiten documenta, bei der das unter der Leitung des amerikanischen Kulturfunktionärs Porter A. McCray und mit dem CIA in Verbindung stehende ‚International Program‘ des MoMA die Auswahl der 37 die USA vertretenen Künstler*innen übernimmt. Besonders Künstler*innen des abstrakten Expressionismus wie Jackson Pollock wurden aufgrund ihres frei-gestischen Stils ausgewählt, der die Unterschiede der westlichen und östlichen Gesellschaften verdeutlichten sollte: „Ein Kommunist wäre nicht zu diesem impulsiven Individualismus fähig, weil er Freiheit nicht gewohnt sei“, beschreibt die Ausstellung die damaligen Denkmuster. Außerhalb des sozialistischen Ostens wird abstrakte Kunst immer wichtiger, das zeigt sich auch auf der documenta. Die „Weltsprache Abstraktion“, man könnte auch „Westsprache“ sagen, wird zur einzig freiheitlichen Kunstrichtung stilisiert und Kassels schon in der Gründungsphase der documenta berücksichtige Grenznähe für den kulturpolitischen Clash ausgenutzt, bei dem die nicht-gegenständliche Kunst dem die sowjetische Diktatur widerspiegelnden sozialistischen Realismus gegenüber gestellt wurde. Besonderes Augenmerk legen die Ausstellungsma-cher*innen in diesem Kapitel auch auf die Beziehung von BRD und DDR im Bezug auf die documenta. Nachdem die sozialistische Staatskunst in den ersten vier Ausgaben konsequent ausgeschlossen worden war, plante erst Harald Szeemann 1972 erfolglos, Manfred Schneckenburger 1977 hingegen erfolgreich die Präsentation von DDR-Künstlern – nach anfänglicher Ablehnung von Honecker und Co. diesmal sogar gern gesehen. Doch woher stammt das Interesse der Politik an der documenta? Warum entstehen solch enge Verbindungen zwischen „Diplomatie und Kunst“, wie dieser Abschnitt auch hätte genannt werden können?
Kein Zweifel: Die Kunst bekommt eine politische Funktion und soll vermitteln, welche Werte und Ziele der Staat, aus dem sie stammt, repräsentiert. Anhand vieler Fallbeispiele und Texttafeln wird im DHM deutlich erkennbar, wie sehr in Ost und West auf unterschiedliche Arten ein ähnliches Ziel, die künstlerische Bebilderung der eigenen Ideologie, verfolgt wird. Während die restriktive Kulturpolitik des Sozialismus auf Einschränkung und Verfolgung setzt, werden im Westen etwa visuell den freiheitlichen Geist atmende Künstler*innen des abstrakten Expressionismus bevorzugt für Auslandspräsentationen ausgewählt. Raumansicht „documenta. Politik und Kunst“ © DHM/David von Becker
Eine Instrumentalisierung der Kunst?
Die Frage, was mit der Kunst in ihrer politischen Vereinnahmung passiert, stellt die Ausstellung leider nicht. Dass von Kunst angenommen wird, sie sei frei vom Anspruch einer Funktionsfähigkeit, war nicht immer so. In „Theorie der Avantgarde“ schildert Peter Bürger die Herausbildung einer „Institution Kunst“ in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Von „gesellschaftlichen Verwendungsansprüchen“ etwa in der Kirche befreit, entwickelt sich die Institution zu einem vom politisch-sozialen Alltag abgehobenen Medium, das gerade aufgrund seiner zunehmenden Entfernung zum Daily Life gesellschaftlich immer wirkungsloser wird. ⁵ Im Umkehrschluss heißt das: Der Angriff auf die Autonomie, also die Herauslösung aus der abgeschotteten Kunstinstitution, lässt eine politische Wirkung zu – genau das versuchen die Kunstpolitiken auf der documenta. In Willi Sittes Gemälden von sozialistischen Fabrikarbeitern, die auf der documenta 1977 und auch im DHM präsentiert werden, fällt es leicht den politischen Botschaft zu erkennen, doch lässt sich das auch für die Kunst des abstrakten Expressionismus behaupten? Ist die Kunst an sich auch politisch oder wird sie nur politisiert? Das wird in der Ausstellung nicht explizit reflektiert. Vielmehr übernehmen die Kurator*innen dieses Abschnittes Lars Bang Larsen und Alexia Pooth selbst die Methode, Kunstwerke auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen und sie zur Illustration einer gesellschaftlichen Haltung zu nutzen. So wird Joseph Beuys’ „7000 Eichen“, eine riesige, unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ gebrandete Aktion, bei der Beuys einen Haufen von Basaltstelen vor dem Fridericianum durch das Pflanzen von jungen Bäumen abbauen ließ, im Wandtext mit der „Eiche als Symbol deutscher Einheit“ nur auf die in BRD und DDR getrennte Gesellschaft bezogen. Aspekte wie ein klimabewusstes Miteinander oder ungewohnte Naturerfahrungen fallen weg.
An diesem Punkt lässt sich der kritische Umgang mit der Institution documenta vielleicht am besten erkennen: Anstatt sich den Kunstwerken detailliert im einzelnen zu nähern, werden sie im DHM auf die Politik im Hintergrund reduziert. Einzelne Arbeiten werden zu Belegen für Ideologien, gesellschaftlichen Stimmungen oder zeitgeschichtliche Ereignisse. Ein Ansatz, den man sich nur im Geschichts-, nicht aber im Kunstmuseum leisten kann, der aus kunstwissenschaftlicher Sicht vieles auslässt, dafür aber neue Sichtweisen ermöglicht. Ob die präsentierten Erkenntnisse wie bei der Personalie Haftmann neu oder wie beim Weltanschauungskampf von Figuration und Abstraktion schon bekannt sind - die konzentrierte Betrachtung der documenta aus Perspektive der Politik sorgt dafür, dass die Besucher*innen sich der im Kunstkontext gemeinhin ausgeblendeten Bedeutung von politischen Interessen bewusst werden. Dass das so funktioniert, lässt sich auch mit Bourdieus Gedanken zur „Illusio“ erklären. Sein Ansatz, um die Funktionsweise von sozialen Gruppierungen zu erklären, ist die Beobachtung von Feldern, wie etwa das Kunstfeld mit den auf der documenta vertretenen Künstler*innen, Kritiker*innen und Besucher*innen eines sein könnte. Die Akteur*innen eines Feldes gleichen sich durch die gemeinsame Teilnahme an einem „Illusio“ genannten Spiel mit eigenen Regeln. ⁶ Die Spielregeln des Kunstfeldes – wie zum Beispiel das Bestehen auf eine das Werk nicht instrumentalisierende Auseinandersetzung mit Kunst ein mögliches Gebot – gelten immer und lassen sich auf jeder documenta in Reinform finden. Was jedoch innerhalb des Kunstfeldes leicht verloren geht, ist das auf der Gesamtschau documenta, das DHM zeigt es öffentlichkeitswirksam, auch die Spielregeln des Politikfeldes gelten. Eigentlich nicht überraschend, ist die documenta, wie sich im abschließenden, die Organisation der documenta vorstellenden Ausstellungsabschnitt nachvollziehen lässt, eine bürokratisch aufgebaute, von Stadt, Land und Bund unterstützte GmbH mit Sponsoring und Aufsichtsrat. Doch nicht nur in der inneren Struktur, auch in der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, das ostdeutsche Besuche auf der DDR förderte oder dem CIA-nahen ‚International Program‘ des MoMA zeigt sich, dass es in Kassel wohl mehrere konkurrierende „Illusios“ gab – zwei Felder mit unterschiedlichen Regeln und Werten.
Die Präsenz der Politik mit ihren Regeln und Werten auf der documenta wird leicht vergessen, doch kommt ihr als Akteur auf der Großausstellung eine zentrale Rolle zu, hängt doch nach Bourdieu die Entstehung eines Kunstwerk mit eigenem Wert und breiterer Rezeption nie nur mit der Künstler*in, „sondern mit der Gesamtheit der Akteure und Institutionen“ zusammen. Es ist eine „kollektive Arbeit“ ⁷, aus der auf einer Großveranstaltung wie der documenta der ideelle (und auch der ökonomische) Wert entsteht, nur fällt der Anteil der Politik an diesem Prozess oft unter den Tisch. Die Ausstellung richtet ihren Blick auf genau die Momente der documenta-Geschichte, in denen das Aufeinanderprallen zweier Felder – Politik und Kunst – deutlich wird. So lassen die Kurator*innen besonders die politischen Spielregeln im Kunstkontext, von bewussten unpolitischen Präsentationen bis zu ideologisch hochstilisierten Gemälden, deutlich zu Tage treten. Doch Bourdieu erinnert: „Dieses Spiel zum Gegenstand machen heißt aber zugleich nicht vergessen, dass die Illusio zu ebender Wirklichkeit gehört, die es zu verstehen gilt“ ⁸ Denn natürlich gelten alle Spielregeln – ganz schön Meta – auch noch heute für das DHM, das als eines von wenigen Museen unter alleiniger Trägerschaft des Bundes steht. Welche politischen Interessen hinter der Schau zu vermuten sind, bleibt offen: nach Gentiles Haftmann-Erkenntnissen Offenheit demonstrieren, das selbstkritische Bewusstsein der wichtigsten Kulturinstitution Deutschlands beweisen oder die Besucher*innen nur auf die 2022 stattfindende Ausgabe vorbereiten? Ist eigentlich auch egal, denn für den neugierig-hinterfragenden Blick in die Vergangenheit braucht es keine besonderen Anlässe.¹ Arend, Ingo: Braune Schatten über der documenta in Kassel, in: dw.com (23.02.2020), URL: Braune Schatten über der documenta in Kassel | Kunst | DW | 23.02.2020 (letzter Abruf: 14.10.2021)
² Arend, Ingo: "Einbruch der Zeitgeschichte in das Refugium der Ästhetik", in: Süddeutsche Zeitung 67, 13.06.2021, URL: Documenta und Nationalsozialismus: Eine Tagung zu Werner Haftmann - Kultur - SZ.de (sueddeutsche.de) (letzter Abruf: 14.10.2021)
³ Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin 1992, 12.
⁴ Obwohl Foucault seinen Begriff der gleichzeitig partnerschaftlichen und widersachenden Kritik als eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Machtverhältnissen verstand, lässt er sich auf die mit großem zeitlichen Abstand zur ersten documenta reagierende Intervention von Voss beziehen. Ich verstehe die nachträgliche Präsentation eines aufgrund seiner Verfolgung nicht gezeigten Künstlers als Teil des langwierigen und nicht abgeschlossenen deutsch-jüdischen Versöhnungsprozesses, der schon 1955 hätte mitgedacht werden müssen.
⁵ Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, 31-35.
⁶ Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. ⁶2014, 360-365.
⁷ Ebd. 362f.
⁸ Ebd. 364.
Bundespräsident Theodor Heuss auf der ersten documenta, links neben ihm: Arnold Bode documenta, 1955 © documenta archiv, Foto: Erich Müller
Die Ausstellung "Documenta. Politik und Kunst" im Deutschen Historischen Museum (Unter den Linden 2, 10117 Berlin) läuft noch bis zum 9. Januar 2022. Das Museum ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Donnerstags sogar bis 20 Uhr. Karten kosten acht, ermäßigt vier Euro.
Mehr Infos findet ihr
hier.