Vor hundert Jahren haben sie begonnen: die Goldenen Zwanziger. In unzähligen Büchern, Filmen und Serien, zuletzt Babylon Berlin, wurden sie mystifiziert und beschworen. Es sind politische Ausnahmezustände, gebrochen durch dekadente Feiern, aber auch Armut und Krankheit, die dem ersten Weltkrieg nachfolgen. Zur medialen Legendenbildung, die das uns heute so bekannte Bild dieser Zeit prägt, trägt natürlich auch die bildende Kunst bei. Sofort kommt einem Dix‘ Großstadt-Triptychon in den Sinn, welches das für uns so typische Motiv dieser Zeit zeigt: eine aussschweifende Nachtclubszene in Berlin.
Auch Max Beckmann zog es in dieser Zeit, eigentlich in Frankfurt lebend und lehrend, in die Hauptstadt, in der er vor dem Krieg schon gearbeitet hatte. Der sechswöchige Besuch fand als Lithografiesammlung Berliner Reise Eingang in sein Schaffen. Ein Großteil seines graphischen Werks ist seit September in der Ausstellung Day and Dream im Max-Ernst-Museum in Brühl zu sehen. Im Zentrum stehen die fünf von ihm veröffentlichten Druckgrafikmappen, von denen vier in genau dieser aufreibenden Zeit zwischen Krieg und Weltwirtschaftskrise entstehen. Druckgrafiken, damals dank einfacher Reproduktion ein weitverbreitetes Medium, faszinieren Beckmann. Nachdem er sie anfangs eher zu Studienzwecken und als Vorlagen genutzt hat, entwickelen sich die druckgrafischen Werke zu einem eigenständigen, aber leider bis heute eher unbekannteren Teil seines Œuvres.
Seine erste Lithografiemappe Die Hölle von 1919 findet kaum Käufer, sie ist zu radikal. Thematisch zeigt Beckmann seine vielfältigen Eindrücke des Nachkriegsjahres, in dem der Schrecken immer noch omnipräsent ist. Politische Szenen wie die Ermordung Rosa Luxemburgs werden kombiniert mit persönlichen Erlebnissen. Ein Werk zeigt Beckmann selbst mit seinem Sohn Peter. Dieser hat vom Spielen eine für eine Konservendose gehaltene Handgranate mitgebracht, die der Vater erst in der Wohnung erkennt. Stilistisch ist Beckmann kaum wiederzuerkennen. Seine impressionistische Malweise hat sich im Krieg in harte, scharfkantige Linien und Brüche verwandelt, die in den schwarz-weißen Lithografien eine dramatische Wirkung entfalten und dementsprechend schockieren. Ganz ähnlich ist der Stil bei der oben erwähnten Berliner Reise von 1922. Auch hier sieht man kräftige Konturen und harte Linien, die durch die Bilder schneiden, doch diesmal in einer nüchterneren, aufgeräumten Komposition. Verschiedenste Figuren werden in Berliner Alltagsszenen wiedergegeben. Das Leben der Zeit ist von Widersprüchen durchzogen und Beckmann zeigt folgerichtig beide Seiten: Bettler trifft auf Theaterfoyer. Die Figuren wirken beinahe wie Karikaturen mit ihren überdimensionierte Köpfen und der übertriebenen Mimik. Bei der genauen Betrachtung der einzelnen Szenen entsteht ein Gefühl für das ambivalente Berlin der 1920er Jahre. Dabei bleibt die Auswahl nicht in klischeehaften Motiven verhaftet. Das Zusammentreffen zweier ungestümer Eisläufer mit einem älteren Paar im humorigen Blatt Der Schlittschuhläufer ergänzt sich gut mit den kritischeren Szenen.
In Day and Dream wird jedes Mappenwerk kurz in seiner Entstehungsgeschichte eingeführt. Die Kunst an sich, nicht die historische Einordnung steht im Fokus. Es ist eine Aufforderung, selbst zu gucken, zu entdecken und Unterschiede und Bemerkenswertes zu finden. Gesichter, eine Sammlung von Beobachtungen aus der Kriegszeit, erstaunt den aufmerksamen Besucher mit seinem an manchen Stellen ganz anderen, feineren, fließenderen Linien. Jahrmarkt von 1921 wirkt auf den ersten Blick wie eine weitere Sammlung von flüchtigen Alltagsszenen, jetzt eben mit Schaubühne und Schlangenbändigerin. Doch Beckmann beobachtet hier nicht nur, er erschafft seinen eigenen „Circus Beckmann“, in dem plötzlich seine Frau Minna und Verleger Piper auftauchen. Die titelgebende Mappe Day and Dream schließt die Ausstellung ab. In Beckmanns niederländischem Exil entstanden, werden die 15 Grafiken 1946 in den USA veröffentlicht. Deutlich ruhiger und mit einer freieren Komposition entzieht sich diese Reihe einer schnellen Interpretation. Wie in einer Rückblende nimmt Beckmann aber Motive aus vorherigen Werken auf. So zieht sich die Bühne und das Theater durch sein Schaffen, ob als Varietészene in Berliner Reise, im Jahrmarkt oder hier im Werk King and Demagogue als Teil seiner eigenen Ikonografie. Die Blätter bilden ein harmonisches Ende, wird doch noch einmal deutlich, wie Beckmann seine subjektive Wahrnehmung auf vielfältige Weise in die Grafiken einbringt. Mal als aufmerksamer Chronist, mal in persönlicheren künstlerischen Konzepten, immer bleibt ein eigener Zugang und Sichtweise auf seine Zeit. Folglich scheint es zwingend, dass sowohl Day and Dream als auch Die Hölle je ein Selbstportrait als erstes Blatt vorangestellt ist.
Wer sich Zeit lässt kann viel entdecken. Besondere Figuren und bizarre Gesten, Unterschiede und Entwicklungen in Stil und Technik, besonders in Erinnerung bleiben wird aber die Lebendigkeit einiger Blätter. Der Exzess der Partynächte in Berlin, die gesellige Unterhaltung in Frauenbad oder eben die beängstigenden Zeichnungen, die Beckmann in den Lazaretten des ersten Weltkriegs angefertigt hat. Leichenhaus von 1915 zeigt so eine Szene aus der Aufsicht. Zerklüftete Figuren, die Toten ohne Gesicht, das ist grausam, aber mit großer Intensität gezeichnet.
Die Intensität mit der sich Beckmann den 20er Jahren gewidmet hat, ist faszinierend. Die Ambivalenzen aus privaten und öffentlichen Motiven, abgeklärten Alltagsbeobachtungen und persönlich-fantasievollen Bühnenszenen, in denen die vielfältigen Widersprüche zwischen Hunger, dekadenten Ausschweifungen, spießigem Bürgertum und künstlerischer Avantgarde zu sehen sind, zeichnen ein umfassendes Bild dieser Zeit. Beckmann verlässt sich zwar auch auf bekannte Motive, schenkt aber meist dem noch Unbekannten seine Aufmerksamkeit. So lassen sich in Brühl die 20er Jahre ein bisschen neu entdecken.
Max Beckmann – Day and Dream. Eine Reise von Berlin nach New York
Bis zum 28.2.2021 im Max-Ernst-Museum
Comesstraße 42, Brühl
weitere Informationen zur Ausstellung findet ihr hier.