Karl Ove Knausgård: Im Herbst

Ohne einen Vorrat an Kaugummis in seinem Schreibtisch kann Karl Ove Knausgård (*1968) nicht schreiben, gesteht der norwegische Autor in seinem jüngst erschienen Buch Im Herbst (2017). Über vier Seiten widmet er darin seinen Beobachtungen über „das Wesen des Kaugummis“. Die Funktionslosigkeit, die im Kauens einer nährstofflosen Masse liegt, lässt das Kaugummi zwar infantil wirken, verleiht ihm jedoch auch einen Knausgård betörenden Eigenwert.
Mit einer ansteckenden Neugier schildert Knausgård, der mit seiner in sechs Bänden erschienen Autobiografie weltbekannt geworden ist, in diesem ersten von vier Jahreszeiten-Bänden seine Beobachtungen und Gedanken zu scheinbar selbstverständlichen Ereignissen, Objekten und Tätigkeiten. So beschreibt er in dem fast 290 Seiten zählenden Sammelband ausführlich den Verzehr einer Apfelsine, den Körper einer Wespe oder die Beschaffenheit des Mundes. Außerdem diskutiert er die unüberwindbare Differenz zwischen einer Plastiktüte und der Erde oder zwischen der Sonne und dem Menschen. Fasziniert von August Sanders Porträts hinterfragt er die Bedingungen und Erkenntnismöglichkeiten von Porträtfotografien und stellt an anderer Stelle fest, dass die chemischen Voraussetzungen zur Anfertigung einer Daguerreotypie bereits im Mittelalter gegeben waren.
Eingebettet in die als insgesamt drei Briefe an Knausgårds noch ungeborene Tochter verfassten essayistischen Betrachtungen sind zahlreiche Erinnerungen, Geschichten und Anekdoten aus dem Alltag des Autors an der schwedischen Küste. Dabei schwanken die äußerst persönlichen Texte zwischen einer spürbar ehrlichen Neugier und einer bisweilen angestrengt wirkenden Begeisterung Knausgårds für die ihn umgebende Welt und allem Banalen, was sie hervorbringt. Diese Faszination und die propagierte Unvoreingenommenheit des Blicks will Knausgård, wie er zu Beginn des ersten Briefs darlegt, seiner Tochter vermitteln und zugleich für sich selbst aufrechterhalten: „dir die Welt zu zeigen, meine Kleine, macht mein Leben lebenswert.“ Und so zeigt Knausgård in mehreren kurzweiligen Kapiteln, aus denen sich die Briefe an die Tochter zusammenfügen, auf die kleinen und großen Wunderlichkeiten des Alltags: von Konservendosen, Trommeln und Gummistiefeln über Läuse und Quallen bis zu Schmerz, Stille und Vergebung. Dieses in jedem Kapitel sprachlich präzise unternommene Zeigen auf die Dinge, das Beschreiben und Hinterfragen von scheinbar alltäglichen und selbstverständlichen Phänomenen und die in den Texten mitschwingende Aufforderung zur Veränderung des gewohnten Blickwinkels animieren, die Welt auf die knausgårdsche Weise neu zu sehen. Damit möglicherweise eine mit entsorgten Kaugummis gespickte Asphaltstraße für einen kurzen Moment dem Sternenhimmel gleichen kann.
Karl Ove Knausgård: Im Herbst. Mit Bildern von Vanessa Baird
Luchterhand Literaturverlag, München 2017
ISBN: 978-3-630-87514-9
€ 22,00 [D]