Eintauchen ohne nass zu werden

WERK in progress ist ein Angriff auf die lebendige Phantasie.
Tiefschwarz. Kein Ton. Dann beginnt ein leises Surren, gefolgt von Bildern, die sich langsam über Wände, Decke und Boden ergießen. Dazu urbane Klänge, die nicht richtig einzuordnen sind. Die Strukturen des Raumes werden nach und nach unter den Projektionen der surrenden Beamer sichtbar. Rohe, geklinkerte Wände, einige Industrie-Oberlichter, ein Treppengeländer im hinteren Teil der Halle des Kunstkraftwerks im Leipziger Westen. Auf dem Boden breitet sich das Mosaik, das auf die Sixtinische Kapelle anspielt, aus. An den Wänden wachsen antike Säulen und die Tiefenschärfe verlagert sich durch projizierte Gärten.

Die Illusion, von dutzenden Beamern an die alten Wände gestrahlt, ist von der italienischen Künstlergruppe Immersive Art Factory entwickelt worden. Dieser Name ist so lautmalerisch wie die Kombination aus Bild und Ton in dieser Halle. Der Zuschauer taucht wortwörtlich in die gestaltete Welt ein. Sie erinnert an eine Traumlandschaft, die sich immer wieder neu aufbaut, sich nicht an die Gesetze der Physik hält und deren Bann man sich für die zwanzigminütige Projektion nicht entziehen kann. Dabei erzählen die Bilder eine Geschichte: die des Raumes selbst. WERK in progress zeigt die Entstehung und Nutzung des Kunstkraftwerks von dessen Beginn bis heute, aufgearbeitet und künstlerisch interpretiert. Das wird deutlich, wenn man den am Eingang befestigten Informationstext liest. Wer das nicht tut, lässt sich unwissentlich von den Bewegungen der Projektion leiten, erkennt vielleicht den Karl-Heine-Kanal, der sich über den Boden ergießt, aber ahnt sicherlich nicht, dass die antike Säulenhalle als Sinnbild für die Dauerhaftigkeit des Dialogs zwischen der Kunst und der industriellen Archäologie stehen soll.
Dem Erlebnis tut das keinen Abbruch. Die Ausstellung durchbricht die vierte Wand, lässt den Zuschauer Teil des Erlebnisses werden und macht ihn damit zugleich zur einzigen Schwachstelle. Denn sein Schatten durchbricht als einziges die Projektion. Die Übergänge der verschiedenen Beamer sind perfekt und nicht zu unterscheiden, außer sie treffen auf den Zuschauer, der sich frei und nicht gelenkt durch den Raum bewegen kann. Das heißt allerdings auch, dass, je mehr Zuschauer in der Halle stehen, desto undeutlicher wird die Bodenprojektion. Doch wer sich auf den Strom an Bildern und Geräuschen einlässt, der wird Teil der Projektion und bekommt die Möglichkeit, in eine neu konstruierte, traumgleiche Welt einzutauchen.
Um alles wahrnehmen zu können, müsste der Zuschauer die Vorstellung mehrmals sehen, so komplex und ungewöhnlich sind die Darstellungen. Das ist typisch für die Künstlergruppe um Gianfranco Iannuzzi, die zum ersten Mal eine Ausstellung in Deutschland zeigen. Die Eindrücke sind fast erdrückend, die Zusammenhänge der Bilder so unklar, dass sie sich auf einem schmalen Grat zwischen verstörend und verzaubernd bewegen, aber im Zusammenspiel mit der Musik doch funktionieren. Die Menschen im Raum reagieren ganz unterschiedlich. Manche laufen Linien auf dem Boden ab, folgen einer inneren Choreografie, andere stehen stumm und drehen sich nur manchmal, um die Perspektive zu verändern. Wieder andere sitzen, an die Wand gelehnt, neben dem Eingang und blicken um sich. Am Ende der Installation wird der Raum schwarz und still. Der Zuschauer bleibt zurück, ist wieder ganz bei sich. Die Projektion ist nur ein Erlebnisangebot, gibt keine Richtung oder einen Rundgang vor. Jeder nimmt wahr, was er möchte und interpretiert es für sich. Dabei entsteht in dieser Ausstellung sicherlich keine rationale Interpretation. Hier entsteht ein Gefühl.

WERK in progress läuft noch bis zum 24. August 2017 im Kunstkraftwerk in Leipzig und kostet 11€, ermäßigt 8,50€ (Kombiticket mit The Hundertwasser-Experience) Eintritt.