Der späte Ruhm Lassnigs, so wird bei der Lektüre deutlich, ist zu einem gewissen Anteil auch ihrer extremen Sensibilität, ihrem grundsätzlichen Misstrauen in die Menschen und ihren heftigen Selbstzweifeln geschuldet. So erinnert sich Lassnig etwa, wie Yves Klein in den 1960er Jahren eine ihrer Pariser Ausstellungen besuchte und begeistert fragte, von wem die gezeigten Arbeiten seien – die anwesende Lassnig traute sich nicht, sich als Schöpferin ihrer eigenen Malereien zu erkennen zu geben. Immer wieder behindert ihre Schüchternheit sie im knüpfen von wichtigen Kontakten.
Diese Persönlichkeitsstruktur scheint Fluch und Segen zugleich zu sein. Sich selbst zu vermarkten liegt der Künstlerin eben sowenig wie das wichtige Netzwerken mit der Wiener Kunstszene. Wenn sie ausgeht, scheint dies mehr notwendiges Karrierekalkül denn Vergnügen zu sein - tagelang muss sie sich nach geselligen Abenden in den Künstlerkneipen erholen. Künstlerisch hingegen ist ihr ausgeprägtes Gespür für ihre Empfindungen mehr als wertvoll. Durch ihr Lebenswerk hindurch ist ihr besonderes Bewusstsein für den eigenen Körper zentrales Thema ihrer Arbeiten. Sie malt nicht, wie sie sich sieht, sondern wie sie sich selbst wahrnimmt. So etwa kann, wenn Lassnig unter ihrer starken Lärmempfindlichkeit leidet, das Ohr im Selbstporträt entsprechend gigantische Ausnahme annehmen. Je nachdem, wie sich ihr Arm anfühlt, wird dieser mal als dünner Draht, mal als schwülstiges Fleisch auf der Leinwand dargestellt - oder er wird gar nicht gemalt.
In oft poetisch ausformulierten und nicht selten selbstironischen Tagebucheinträgen reflektiert die Künstlerin das Erlebte, ihre oftmals schwierigen Liebesbeziehungen und vor allem ihre künstlerische Entwicklung. Viele dieser Selbstaussagen aus Interviews und den Tagebüchern, die Lassnig ab den 1940er Jahren regelmäßig führt, lässt Lettner in ihre lebhafte und anschauliche Schilderung von Lassnigs Leben einfließen. Dabei stellt die Autorin Lassnigs oftmals ambivalenten Aussagen sehr differenziert dar und nimmt eine kritische Einordnung dieser vor. Lassnig, die in vielen ihrer Arbeiten Bezug auf die eigene Lebensgeschichte nimmt, betonte mehrfach, dass man, wenn man etwas über sie wissen wolle, ihre Arbeiten betrachten solle. Diese erste umfangreiche Biografie bietet eine wunderbare Ergänzung zu diesem Vorhaben und ist eine
einfühlsame Einführung in den wundersamen Kosmos der Maria Lassnig.