“Mehr Sehen” Kunst und Literatur in einer Welt der Zweckmäßigkeit

Die Schriftstellerin Vera Vorneweg spricht in einem Seminar der Uni Bonn über ihre Arbeit mit Marion Poschmann, mit der sie im Rahmen eines Mentorenprogramms des Literaturhauses Düsseldorf an eigenen Texten arbeitet. Im Kulturdorf Schöppingen erweitert sie ihre Arbeit. Bekannt ist Vera durch ihre Live Writing Performance auf den Straßen Düsseldorfs. Ich treffe Vera vor ihrer Installation auf den Rollläden der geschlossenen Kneipe “Zum Blauen Bock”.
Passanten laufen vorbei, ohne den Text innerhalb der Schriftinstallation wahrzunehmen, die die Rollladen der geschlossenen Kneipe auf der Ellerstraße schmücken, Teil eines Viertels Düsseldorf, welches immer wieder als “Klein-Marokko” in die Schlagzeilen gerät. "Das passiert häufig”, erklärt mir Vera. Ihre Straßenliteratur scheint sich in die Stadt eingeschlossen zu haben, sie ist unaufdringlich, muss überhaupt erst gesehen werden oder eben auch nicht. Es sei den Passanten selber überlassen, inwieweit sie sich mit dem Text befassen wollen, der auch als ganze ganz eigene Installation begriffen werden kann. Viele Wochen saß Vera auf der Stufe der Kneipe und schrieb. Es gäbe viele Begriffe für das, was sie damit täte, viele davon hört Vera erst nach der Fertigstellung. Texte, die betrachten: die Straße, die Umgebung, Zusammenhänge. Und an manchen Stellen verstecke sich dahinter eine Art Poesie, ein magischer Realismus, den Vera fast unmerklich in ihre Texte einfließen lässt. Frau Poschmann beschrieb diese Fähigkeit einmal als das Verfassen von Wahrnehmungstexten. Angefangen hat diese Art des Schreibens für Vera an U-Bahn-Stationen. Während Corona nahm sie sich vor sämtliche U- Bahn Linien bis zu ihren Endstationen zu folgen, um an einem fremden Ort anzukommen und ihre Betrachtungen aufzuschreiben. Dies ist eine ganz unmittelbare Beschreibung ihrer Texte, etwas wahrzunehmen, etwas mehr in der Umgebung zu sehen, als man es vielleicht auf dem ersten Blick tut. Vera deutet auf ein Kaugummi, welches vor den Stufen klebt, ein profaner Teil des Stadtbildes, nichts, was aus der Reihe fiele, im gewöhnlichen Betrachten besonders auffiele. Indem man es aber in einen Kontext setzte und ihm eine völlig neue Sichtbarkeit versetzt, würde es zu etwas ganz Eigenem werden, einem völlig neuem Sehen. Dieses Neue schrieb Vera auf, während sie jeden Tag aufs Neue in ihr kleines Notizbuch kritzelt, nun nicht an einem fremden Ort, sondern einem Teil ihrer eigenen Stadt. Irgendwann sei sie selber ein Teil dieser Straße geworden, erzählt Vera. Sie kam mit Anwohnern ins Gespräch, mit Passanten, die neugierig wurden und Kioskbesitzern, die sie mit Kaffee versorgten und so wurden auch diese selber Teil ihrer Texte. Manchmal nur dadurch, dass der Edding beim Übertragen auf die Rollläden, nach längeren Gesprächen eine dickere Farbspur hinterließ, als er es beim konstanten Schreiben tat. Die Gespräche und die Menschen wurden so unmittelbarer Teil der Kunst.
Vier Personen erzählt Vera hätten einen ganz besonderen Eindruck bei ihr hinterlassen, sodass sie diese tatsächlich auch namentlich in der visuellen Prosa verewigt. Live kommt nicht nur die Schrift auf die Läden, sondern auch ein Stück, der Menschen selber, die Teil dieser ganz persönlichen Umwelt werden. Sichtbarkeit ist ein Stichwort, welches mir in mehreren Hinsichten einfällt. Das Schicksal von Osman, Youseff, Fayz und Dhakir ist dafür ein Beispiel. Die vier erzählten Vera von ihren Schwierigkeiten als Flüchtlinge in Deutschland anzukommen. Die Unsichtbarkeit beschäftigt sie, das Gefühl nie wirklich aufgenommen zu sein, immer abseits der “Deutschen” zu stehen und auch so wahrgenommen zu werden. Wieder und wieder kommt Vera mit den Vieren ins Gespräch, wenn sie die auf der Stufe hockenden Schreibende treffen. Vera erzählt mir wie berührt sie von der unfassbaren Hilfsbereitschaft sei, die sie erlebte. Die vier Männer wurden Teil des Projekts, wurden Teil der Schrift, aber auch für Vera selber Helfer und Freunde. Sichtbar werden nun zumindest ihre Namen, die in deutscher und arabischer Schrift im Düsseldorfer Stadtbild verewigt sind. Ein Mann des türkischen Kulturvereins Ericiyes, der sie versorgte, mit Tee, Börek, sämtlichen Speisen, die seine Mutter herstellt, die Gespräche mit dem Kioskbesitzer an der Ecke, die Menschen, die mit ihren Hunden vorbeispazieren, all diese Menschen wurden Teil ihres Schreibens, machen sich in Tintenklecksen deutlich. Vera lässt die Straße auf subtile, schüchterne Art sprechen und sie spricht gleichermaßen zur Ihr. So geschehe beinahe etwas Anthropomorphes, nicht nur Menschen, sondern auch Dinge fangen an ihr zu erzählen. Gerade durch die mediale Abgelenktheit durch einen Parallelbildschirm fiele es immer schwerer Umgebung wahrzunehmen, in Veras poetischen Beobachtungen gehe es darum “das Vorhandene zu erwärmen” und diese Dinge damit wieder sichtbar zu machen. Schließlich sprechen sie zu einem, man müsse nur wieder zuhören. Es brauche immer die Anderen, erklärt Vera, eine Umwelt und eben die Menschen, die ihre Prosa ausmachen.
“Als Idealistin denke Ich Kunst ist vielleicht die einzige Disziplin, die zwecklos sein muss, um frei zu sein.”
Veras Texte haben keinen prosaischen Zusammenhang zueinander, nach jeder Beobachtung setzt Vera einen Punkt und fährt fort mit einer Nächsten. Es gäbe keine Geschichte, die die Zeilen miteinander verbinden. Dies kann verwirrend erscheinen, welchen Zweck hätte nun eine Aneinanderreihung von Sätzen, in der keine Geschichte erzählt würde. Veras Antwort: Keine. Jeder könne da einsetzen und aufhören zu lesen, wo er möchte und sich vielleicht ein Stückweit selber darin wiederfinden, ein Zweck würde dies verhindern und die eigene Sicht einschränken Ihre Prosa könne ein Trichter sein, eine Perspektiverweiterung oder ein Mittel der Wahrnehmung, muss aber auch gar nicht zwanghaft was bewirken. Kunst könne die Welt kaleidoskopischer machen, auf sie einen anderen Blickwinkel geben. Mit ihrer Kunst im speziellen verändert Vera insbesondere die Darstellungsweise von Realität, lässt mehr sehen als von der Wirklichkeit zur Verfügung gestellt wird und dies wirkt in einer Welt, die so viele Geschichten aus ganz einzigartigen Perspektiven beinhaltet wie eine Art Schule der Toleranz. Zu lernen, Menschen, Dinge und die Umwelt selber aus ihrem eigentlichen Kontext zu ziehen und zuzuhören, was sie zu sagen haben. Doch auch Veras Sprache versiegt als durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine eine kollektive Machtlosigkeit durch die Gesellschaft fährt. Lange muss sich Vera mit der Sprachlosigkeit auseinandersetzen, die so ganz konträr zu ihrem Leben der Worte verläuft. Plötzlich hätte Vera den Drang gehabt das, was sie mache -das Schreiben- in einem Zweck münden zu lassen, nur die Worte fehlten ihr dafür. Dann entschloss sich Vera, wenn sie schon keine eigenen Worte hatte, könne sie doch die einer anderen nutzen und begann einen riesigen Container nahe der Bahnschienen unterahlb der Oberkasser Brücke mit Passagen aus Bertha von Suttners Roman “Die Waffen nieder!” zu füllen, im gleichen Stil, nah aneinandergereihte Sätze, die zur Installation werden.
Auch in weiteren Projekten, wie den Kunstkiosk, den sie im “Skotties” veranstaltete versucht Vera Vorneweg Kunst und die aus ihr hervorgehende Wirklichkeit sichtbar zu machen. Und dies in einem Rahmen, der so ganz abseits akademisch hipper Räume verläuft und so tatsächlich ihre Werke und die anderer, die wie bei so vielen Literaten und KünstlerInnen von der Straße und ihren ganz eigenen Milleubewusstsein inspiriert sind, auch der Straße zurückgibt. Mir fällt der Begriff der “Nicht-Orte” ein, der in der Avantgarde Literatur häufig eben diese Räume aufgreifen, die fernab der politisch- akademischen Gesellschaft stehen, unsichtbar gegenüber der Welt sind. Vera schafft es –wenn man genau hinschaut- diesen Schleier ein wenig zu heben ohne als weiße Frau in ein “Retterideal” zu schlüpfen.