Die Abgründe der menschlichen Seele

In der Bonner Bundeskunsthalle provoziert der Künstler Gregor Schneider mit seinem düsteren Erfahrungsparcours Situationen, in denen sich Menschen vor ihren eigenen Gedanken und Emotionen erschrecken.
„Die Ausstellung ist mit Vorsicht zu genießen – und passen Sie auf, es wird eng! Wenn Sie zu Klaustrophobie neigen, überlegen Sie es sich gut...“ Dass Museumspersonal die Besucher mit einer solchen Ankündigung in Empfang nimmt, dürfte eher selten vorkommen. Im Falle der Ausstellung „Gregor Schneider – Wand vor Wand“ ist die Vorwarnung jedoch durchaus angebracht, wie sich beim Durchlaufen des überwiegend chronologisch angelegten Erfahrungsparcours herausstellt.
Gregor Schneiders Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle stehe unter der Devise, musealen Raum zum Verschwinden zu bringen, erklärte Rein Wolfs, Intendant der Bundeskunsthalle, bei der Ausstellungseröffnung am 1. Dezember 2016. Der 2001 mit dem Goldenen Löwen der Biennale ausgezeichnete Künstler, der sich in seinem Werk mit gebauten Räumen auseinandersetzt, begegne hier existenziellen Fragen wie „Wer und was bin ich?“, „Wo bin ich?“ und „Warum bin ich?“. Themenbereiche, die für die heutige zeitgenössische Kunst das grundlegende Fundament darstellten. „Gregor Schneider hat uns viel gebracht und wird uns noch viel bringen!“, konstatierte Wolfs. Bezüglich der künstlerischen Bedeutung Schneiders betonte der Kurator der Ausstellung Ulrich Loock zudem, dass nicht nur dessen Fähigkeit, sensible Schmerzpunkte der Gesellschaft und des einzelnen Menschen zu berühren, zu beachten sei, sondern ebenso der inhaltliche Zusammenhang seines Oeuvres, das in dreißigjähriger Arbeit aufgebaut wurde.
Die einzelnen Stationen des Erlebnisses „Wand vor Wand“ hier vorwegzunehmen, wäre unangebracht – die von Schneider angestoßenen psychischen Prozesse sollte jeder Besucher in ihrer vollen Intensität für sich erleben dürfen. Auch werden die Eindrücke sicherlich sehr verschieden ausfallen – so individuell und subjektiv eben, wie es jeder Mensch ist.

Gewisse wiederkehrende Motive lassen sich beim Besuch der Ausstellung herausstellen: Es gibt abrupte Wechsel zwischen Hell und Dunkel, Klarheit und Unklarheit, Kälte und Wärme, Sehen und Gesehenwerden, Stehen und Kriechen. Die verwendeten Materialien sind enorm vielfältig. Kopf und Körper sind ständig in Aktion – der Besucher arbeitet sich durch die Räume und Szenarien vorwärts, während vor dem geistigen Auge Geschichten entstehen, vielleicht Menschen in seelenlose Alltagssituationen hineinfügt werden, er Thriller- und Horrorhandlungen kreiert oder Abgleiche mit dem eigenen Lebensraum anstellt. Um physisch weiterzukommen, muss man immer wieder durch Türen gehen, immer wieder über den eigenen Schatten springen und die Angst vor dem überwinden, was sich möglicherweise auf der anderen Seite einer Wand befinden könnte. Die Neugier ist der Antrieb, der den Menschen durch das Labyrinth von Räumen führt.
Auf der Reise durch Gregor Schneiders gebaute Welt zugleich noch die Orientierung im Museumsgebäude zu behalten, erscheint unmöglich. Auf die Nachfrage des Besuchers, wo genau im Museum man sich gerade befände, fasst sich selbst das geschulte Wachpersonal ratlos an den Kopf und muss einen Lageplan konsultieren.

Vom Ende des Rundgangs wird man überrascht – auf der materiellen Ebene mag er zwar abgeschlossen sein, aber die Gedanken und Gefühle nimmt man aus der Bundeskunsthalle mit nach Hause und in den Alltag hinein. Dass ein zeitgenössischer Künstler etwas Derartiges bewerkstelligen kann, ist bei weitem nicht immer so – Gregor Schneider ist zweifelsohne eine Koryphäe. Ob man das, was man in der Ausstellung über sich und andere erfährt, nun gutheißt oder nicht – Schneider versteht sein Handwerk, die Menschen in hoch emotionale Zustände zu versetzen und nachhaltige Wirkung zu erzeugen. Um es mit Rein Wolfs Worten zu sagen: "Das MUSS man erlebt haben – wenn nicht, hat man definitiv etwas verpasst!“

Ausstellungsdauer: 2. Dezember 2016 – 19. Februar 2017