Die Gemeinsamkeiten von Walen und Performance

Cetacea ist die Bezeichnung für Meeressäuger wie Wale oder Delphine. Anders als beispielsweise Robben oder Seelöwen können diese Tiere nicht an Land gehen, sondern müssen bekanntlich nur gelegentlich kurz an die Oberfläche, um Luft zu holen. Neben ihrer meist hohen Intelligenz ist das Besondere an dieser Tiergattung, dass sie sich vor rund 50 Millionen Jahren von Landgängern zu Wasserlebewesen entwickelte. Alles Leben kommt also nicht nur aus dem Wasser, es kann auch wieder ins Wasser zurückkehren.
Cetacea ist auch der Titel einer Performance von Melissa E. Logan, die letzte Woche im Rahmen der Art Cologne an drei Abenden im Britney, einer Außenspielstätte des Schauspiel Köln, aufgeführt wurde. Was eine Tiergattung und eine Performance, in der es zu keinem Zeitpunkt um Wale ging, miteinander zu tun haben, ist nicht einfach zu ergründen. Insgesamt setzt sich Logan in ihrem künstlerischen Werk, das sehr häufig in Kollaboration mit anderen KünstlerInnen entsteht, mit den Lebensumständen der Menschen in unserer Zeit intensiv auseinander. Im Neumarkt-Sektor der Art Cologne, vertreten durch die Bonner Galerie Clement, war die Künstlerin mit einer Solopräsentation ihrer Installation Flags zu sehen. Im Mittelpunkt stand eine große, verfremdete Amerika-Flagge mit dem Titel Travel Banner. Die kritische Auseinandersetzung mit dem durch die Trump-Regierung beschlossenen Einreiseverbot aus zahlreichen arabischen und afrikanischen Ländern erfolgt hier nicht bloß als Statement einer Einzelperson. Auch dieses Kunstwerk entstand in Zusammenarbeit mit KünstlerInnen aus Libyen, Iran, dem Jemen, Somalia, dem Sudan und aus Syrien. Travel Banner ist somit ein Zeichen der Solidarisierung mit den Leidtragenden eines irrationalen Aktes der Abschottung durch die USA und eine starke Kritik an dem Land, aus dem Melissa E. Logan stammt.

Dekrete wie das Einreiseverbot der Trump-Regierung sind letztlich Reaktionen auf die Umwälzungen, die sich momentan in allen Bereichen der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vollziehen. Die Performance Cetacea spielt auf die radikalen Veränderungen unserer Zeit an, indem sie eine Parallele zwischen der Entwicklung der Walvorfahren und den Menschen heutzutage aufbaut. Es wirkt fast wie eine Ironie des Schicksals, dass just am Tag der Uraufführung von Cetacea im Britney (27. April) die New York Times einen Bericht herausgab, der die Ausrottung einer zur Gattung Cetacea gehörige Art meldete. Diese besonders kleine Walart mit dem Namen Vaquita kommt nur im Golf von Kalifornien und an der Westküste Mexikos vor. Trotz aller Bemühungen der letzten Jahre von Tierschützern und von Seiten der Regierungen beider Länder, konnte der Tod der wenigen noch verbliebenen Exemplare nicht verhindert werden. Sie verendeten als ungewollter Beifang in Fischernetzen, die entgegen einem Verbot weiter ausgeworfen wurden.

Diese Meldung wirft ein nachdenkliches Licht auf den Titel der Performance. Menschen sind oftmals nicht dazu in der Lage, sich gegenseitig aufzuhalten. Auch dieser Aspekt des Menschlichen spielt eine Rolle in Logans Kunst. Die Performance selbst war als eine multimediale Aktion gestaltet. Beteiligt war ein Team, das aus mehreren MusikerInnen, TänzerInnen, DJs und einer Filmerin bestand. Auf zwei Ebenen verteilt konnte jeder Zuschauer einen anderen Blick auf das Geschehen einnehmen und sich frei im Raum bewegen. Auf der unteren Ebene waren im Raum verteilt auf mehreren, dreieckigen Podesten Instrumente und Mikrophone aufgebaut. Die obere Ebene wurde zunächst nur von einem großen Mischpult dominiert.
Den Anfang der Performance machte Melissa E. Logan selbst. Mit einem langgezogenen Ton ihres Saxophons zog sie wie mit einem Ruf die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich. Sie wanderte vom Foyer zum eigentlichen Ort der Performance, an dem sich die übrigen MusikerInnen auf den Podesten aufgebaut hatten. Die losen zunächst dissonanten Klänge von Geige, Posaune, Keyboard und Perkussion verdichteten sich immer mehr zu Harmonie und Rhythmus. Schließlich mündete der freie Klang in den ersten Song. In dem von Logan vorgetragenen Songtext über schleppendem, elektronischen Saxophon-Pattern ging es um die Wiederholung, den „loop“, einer Endlosschleife, aus der wir nicht herauskommen. Erst der Wechsel zum nächsten Song brachte die Wandlung. So ging es weiter. Die teils ironischen (ein von Klischee-orientalischer Melodie begleiteter Song, zu dem einer der Perkussionisten auf einem Tierknochen spielte), teils nachdenklichen und bisweilen schrill vorgetragenen Pop-Songs mit Einschlägen aus verschiedensten Musikrichtungen wurden auch schon auf anderen Performances oder Konzerten des Voodoo Chanel vorgetragen. Der Voodoo Chanel als ein weiteres Perfomance-Kollektiv von Melissa E. Logan stellte auch bei Cetacea einen Teil der Besetzung. Die Einzigartigkeit dieses Abends lag im Zusammenspiel der beteiligten KünstlerInnen und dem Zusammenwirken von Licht und Bewegung. Während der ganzen Zeit wurden zur Musik zwei Videoprojektionen gezeigt, die mehr oder weniger das wiedergaben, was sich auf der oberen Ebene abspielte. Die Unsicherheit in Bezug auf das Gesehene wurde dadurch erzeugt, dass es sich im Falle der einen Projektion um ein Wärmebildvideo, auf dem kaum klare Konturen auszumachen waren, und bei der anderen um eine halb durch ein DJ-Pult verdeckte Live-Übertragung handelte. Erst mit dem Gang nach oben erklärte sich, was man auf den Projektionen sah. Hier hatte zeitgleich eine verschlungene Choreographie dreier auf dem Boden agierender TänzerInnen begonnen. Eine Klangkünsterlin am Mischpult begleitete das in neonfarbene Outfits gekleidete Trio. Geblendet von hellen Scheinwerfern verschwammen trotz der Unterschiedlichkeit der drei Tänzer die Grenzen zwischen den Körpern. Die Video-Projektionen eine Etage tiefer gaben die Choreographie in verzerrter Form wieder. Während der ganzen Zeit wurde das Geschehen von einer auf beiden Ebenen umherwandernden Performerin mit zwei Smartphones gefilmt.
Subtil und langsam vollzog sich während der Performance eine Wandlung bei den Zuschauern. Viele der Besucher waren an diesem Tag auf der Art Cologne, hatten Galerien besucht, sich dem Trubel ausgesetzt, der zu solch einer Messe dazugehört. Zu Beginn unterhielt man sich noch oder eilte an die Bar, um sich ein Getränk zu bestellen. Doch während die Dynamik der Performance immer mehr an Fahrt gewann, ebbten viele der Gespräche ab. Die Blicke blieben am Geschehen hängen, wurden in seinen Bann gezogen. Unwillkürlich begann man, sich im Takt der Musik zu wippen, gelöster zu werden. Unten bildete sich ein großer Kreis, in den die PerformerInnen mit einbeschrieben waren. Auf der oberen Etage dagegen saßen die Zuschauer auf dem Boden. Der Impuls, sich hinzuhocken, entsprang dem Bedürfnis, mit den Tänzern auf einer Ebene sein zu wollen. Obwohl man einer intimen Szene körperlicher Nähe beiwohnte, fühlte man sich nicht als Voyeur. Vielmehr offenbarte sich eine urtümliche Schönheit und auch das Konfliktpotential, das mit einer solchen Nähe einhergeht. Das Künstliche der Choreographie, das überzeichnete Makeup und die schrillen Outfits der Tänzer, eröffnete erst den Raum, sich ohne Scham der Szene zu nähern.

Nach dem letzten eigentlichen Song holten die Musiker zu einem langgezogenen, elektronisch begleiteten Pattern aus, das in Variationen wiederholt wurde. Die zwei PerkussionistInnen bekamen viel Raum zur Gestaltung. Entgegen der Erwartung, dass die Performance mit einem Fade-Out aus melancholischen Violinenklängen enden würde, baute sich die Musik zum Schluss hin noch einmal auf. Alle Musiker stimmten in ein kurzes und krachiges Finale mit ein.
Die Gemeinsamkeiten von Walen und Performance

© Le Flash

Es blieb das Gefühl eines geteilten Erlebnisses. Die Verbindung zwischen Titel und Geschehen der Performance ist ohne den Kontext von Logans Werk wohl kaum zu verstehen. Cetacea ist aber tatsächlich als erster Teil eines Musicals gedacht, das sich in seiner Gänze erst noch entwickeln muss. Doch auch ohne diesen Kontext, regt der Titel zum Nachdenken an, denn schließlich ist die Bezeichnung Cetacea nicht gerade verbreitet. Dass man sie in den meisten Fällen nachschlagen muss, führt bereits zu einem Nachdenken über das Thema.
Die Gattung Mensch ist wie vor langer Zeit der Cetacea Umständen ausgesetzt, die ihn zu Veränderungen zwingen könnten. Tatsächlich scheint es mit Blick auf die kürzlich stattgefundene Hannover-Messe, auf der die neusten industriellen Innovationen vorgestellt werden, nicht mehr wie reine Science-Fiction, dass es in der Zukunft selbstständig denkende und handelnde Maschinen geben könnte. Sie wären in der Lage, viele der Aufgaben, die bis jetzt nur von Menschen ausgeführt werden, zu übernehmen. Gleichzeitig werfen aktuelle demographische, politische und klimatische Entwicklungen durchaus die Frage nach einer Zukunft der Menschheit im Ganzen auf.
Einige dieser Aspekte griff Logan in den Songtexten auf. Jedoch verwandelte sich die zwischenmenschliche Interaktion im schillernden Spiel aus Licht und Klang in ein positives Erlebniskollektiv. Beim Zuschauer bewirkte die fast meditative Vertiefung in den Sound, die Bewegung und das Farbenspiel eine Form der Sensibilisierung – ein Gegenmodell zu den Abstumpfungstendenzen unserer Gesellschaft.
Melissa E. Logan ist eine im Bundesstaat New York geborene und seit langem im Deutschland lebende Künstlerin, die neben ihren Einzelarbeiten häufig in Kollaborationen arbeitet. Mit dem Künstler-Kollektiv Chicks on Speed, das in den 90er Jahren in München gegründet wurde, trat sie bereits im MoMa in New York, im Centre Pompidou in Paris und in der Londoner Tate Gallery auf. Insgesamt verfolgen Logan und ihre Partner einen institutionskritischen Ansatz, der sich in alle Bereiche der Kultur und Subkultur erstreckt und auch vor einem Strip-Club keinen Halt macht.