Als ein Tagebuch die Welt veränderte

Eine der bewegendsten Geschichten des Holocaust begann in einem Amsterdamer Hinterhaus, endete im Konzentrationslager Auschwitz und wurde durch ein Tagebuch an die Öffentlichkeit getragen: Anne Franks Einzelschicksal steht heute stellvertretend für das NS-Verbrechen an sechs Millionen jüdischen Menschen.
Bedrückend wirkt der im Zentrum stehende ins halbdunkel getauchte Kubus: Seine Wände zeigen Fotografien der Wohnung, in der sich die verzweifelte Familie Frank 761 Tage lang vor den Nationalsozialisten verscharrte bis sie 1944 von Unbekannten verraten und damit ihr Schicksal besiegelt wurde. Für einen kurzen Moment versetzt die Installation den Besucher an jenen Ort, in das heimische Gefängnis der Franks, das von mehr Angst als Geborgenheit erfüllt gewesen sein muss.

Die vom 10. Mai bis 1. Juli laufende Ausstellung „Deine Anne. Ein Mädchen schreibt Geschichte“ in Köln zeichnet den Lebensweg eines jungen Mädchens nach – stets verwoben mit einschneidenden politischen Schlüsselereignissen. Welche historischen Entwicklungen tangierten seit der Weimarer Republik das Familienleben der Franks und zwangen sie zu folgenreichen Entscheidungen? Sechs um den Kubus aufgestellte Tafeln erzählen ihre Geschichte, konserviert wie in einem Bilderalbum. Kurze Bildbeschreibungen, Texte zum politischen Kontext und allgemeine Fakten zum NS-Regime ergänzen die Fotografien einer glücklich wirkenden Familie. Zwischengeschaltete Pfeiler skizzieren mit prägnanten Zitaten den damaligen Zeitgeist.

Herausgekommen ist kein weiterer kitschig pathetischer Reisebericht über Suche, Grenzerfahrung und die Erkenntnis über Sinn und Wesen des Lebens und der Welt. Herausgekommen ist eine Sammlung vieler kleiner textlicher sowie bildlicher Porträts über Menschen, die den Autoren Zugang zu ihrem Inneren gegeben haben. Um ihre Gesprächspartner in den Vordergrund rücken zu lassen, nehmen sich die Autoren stets bewusst zurück, was eine große Stärke des im Dumont Verlag erschienenen und liebevoll verlegten Buches ist.
Die komplexe Erzählweise hangelt sich entlang an den Beobachtungen und Handlungen von Anne Franks Vater Otto Heinrich Frank, der als einziger die NS-Herrschaft überleben sollte. Schon auf der ersten Tafel wird sein Scharfsinn hervorgehoben: Noch im ersten Weltkrieg kämpften Frank und Hitler als Soldaten der verbündeten Großmächte Deutschland und Österreich Seite an Seite. In der Nachkriegszeit wendete sich das Blatt: Mit Hitlers Erstarken geriet Frank mit seiner Familie plötzlich ins Fadenkreuz der nationalsozialistischen Bewegung, die proklamierte, Juden seien schuld an der Kriegsniederlage. Laut eines Zitats aus dem Interview mit dem Südwestfunk soll Frank schon 1932 Existenzängste geäußert haben. Unter zunehmendem Druck – die Nationalsozialisten vergaben seit 1938 die Zwangsnamen „Sara“ an Frauen und „Israel“ an Männer mit jüdischer Abstammung – siedelte die Familie nach Amsterdam, wo sie sich ein neues Leben aufbauen konnte und auch finanziell abgesichert war.
Fotos zeigen eine unbeschwert lachende Anne Frank mit ihrer Schwester Margot beim Schlittschuhfahren mit anderen Kindern oder am Strand. Nach den Sommerferien 1941 mussten die beiden Mädchen das jüdische Gymnasium Lyzern besuchen. Mit dem Herausstellen solcher drastischen Einschnitte bringt die Ausstellung auf den Punkt, wie Anne Franks Alltag von den Machthabern diktiert wurde. Auch der illustrierte Querschnitt des Hinterhauses, in dem Arbeitskollegen die Franks mit anderen jüdischen Menschen versteckten, fördert die Vorstellungskraft des Besuchers. Insgesamt gibt die Ausstellung in kurzweiliger und prägnanter Weise das komplexe Gerüst der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft wieder, bleibt an mancher Stelle aber zu oberflächlich. Die Tafel über die Deportation der Familie Frank informiert sehr allgemein – zu groß sind wohl die Lücken in der Wissenschaft. Eindrucksvoll ist hingegen die letzte Tafel. Anne Franks Vater, der nach der Befreiung der Alliierten den schmerzlichen Verlust seiner gesamten Familie ertragen musste, zögerte zu lange, um sie vor dem antisemitischen Regime in Sicherheit zu bringen. Als Liebesbeweis erfüllte er seiner jüngsten Tochter ihren größten Wunsch: Mit der Veröffentlichung ihres Tagebuchs machte er sie post mortem zur Schriftstellerin – aus einer kindlichen Perspektive schildert Anne Frank die Schreckensherrschaft eines politischen Systems. Ihre Worte, die sie in einer Zeit der Angst und Unsicherheit schrieb, sind zeitlos und sollten wir uns jeden Tag auf Neue vor Augen führen: „Wie herrlich ist es, dass niemand eine Minute zu warten braucht, um damit zu beginnen, die Welt langsam zu verändern.“

Die Ausstellung des Anne Frank Zentrums e.V. in Berlin in Zusammenarbeit mit dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam läuft noch bis 1. Juli 2018!
Eintritt: 4, 50 EUR; ermäßigt: 2 EUR