Anna Magdalena Bössen: Deutschland. Ein Wandermärchen

Ob Goethe, Hölderlin oder Ringelnatz, Anna Magdalena Bössen (*1980) hat die großen deutschen "Dichter und Denker" auf ihrer über 8.000 Kilometer langen Radreise durch Deutschland im Gepäck. Im Mai 2014 bricht die Diplom-Rezitatorin mit einem gelben Koffer voller Gedichte mit ihrem Fahrrad in Hamburg auf, um bei fremden Gastgebern überall in der Bundesrepublik zu übernachten und gegen Kost und Logis in Theatern, Klassenräumen und Wohnzimmern von Nordfriesland bis Niederbayern Gedichte vorzutragen. Die Eindrücke und Erlebnisse ihres zwei Jahre umfassenden Projekts "Wandermärchen", das die Autorin als "Radreise mit Fragestellungen"1 versteht, schildert Bössen in ihrem 2016 erschienen Buch Deutschland. Ein Wandermärchen. Ähnlich dem Literatur-Nobelpreisträger John Steinbeck, der sich 1960 mit Pudel Charley auf die "Suche nach Amerika" machte,2 sucht Bössen nach Deutschland und fragt sich und ihr Publikum: "Bin ich Deutschland?"
In ihrem sehr persönlichen Reisebericht reflektiert die Autorin anhand der Erlebnisse ihrer Reise was es ist, das Deutschland ausmacht. Die Antworten reichen von der "deutschen Ernsthaftigkeit" über die Spannung zwischen Stadt- und Landleben bis zur gründlichen Beschilderung der Straßen. Die facettenreiche Landschaft und die Geschichte Deutschlands sind in ihrem Bericht ebenso Thema wie aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse. So fragt sich die Autorin etwa bei einer Besichtigung von Goethes Wohnhaus in Weimar, was der Dichter von Umweltverschmutzung, Digitalisierung und dem ungeheure Tempo des heutigen Lebens halten würde. Die Frage nach der Identifikation mit der deutschen Kultur, die Auseinandersetzung mit solch schwierigen Phrasen wie Stolz und Liebe zum Vaterland werden im Rahmen von Bössens Bühnenprogramm vom Publikum als auch in Gesprächen mit den wechselnden Gastgebern immer wieder rege diskutiert. Besonders brisant scheint dabei die Frage, ob Kultur ein Ort der Ablenkung oder der Lösungen sei. Auch an dem derzeit abseits von Heimatmusik und Heimatfilm strapazierten Begriff der Heimat arbeiten sich Bössen und ihr Publikum wiederholt ab: Ist Heimat ein Ort oder ein Gefühl? München, Bayern, Deutschland oder Europa?

Darüber hinaus gewährt die Rezitatorin Einblicke in ihre private Suche nach der eigenen Identität, dem Überprüfen des eigenen Lebensentwurfs und so manchen persönlichen Höhen und Tiefen ihrer zwei "Wanderjahre". Dabei tragen insbesondere die Momente, in denen Bössen etwa mit einem verhaltenen Publikum ringt oder vor lauter Frust dem Wind entgegen brüllt, zur Sympathie gegenüber der Autorin bei. Auch die Beschreibung der bisweilen kauzigen Gastgeber, der kuriosen Spielstätten des "Kofferprogramms" und der mal beschwingten, mal mühseligen Radreise zeichnen diesen au- thentischen Reisebericht aus. Bössens Buch lässt durchaus die Frage zu, was Deutschland abseits von Pünktlichkeit, Ernst und Sauerkraut sein kann.

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1. Anna Magdalena Bössen: Deutschland. Ein Wandermärchen, München 2016, 60.

2. John Steinbeck: Die Reise mit Charley. Auf der Suche nach Amerika, [erstmals: New York, 1962], München 2015(6).

Anna Magdalena Bössen:
Deutschland. Ein Wandermärchen.
Unterwegs mit einem Koffer voller Gedichte.
Ludwig Verlag, München 2016, 16,99€
ISBN : 978-3-453-20876-2
www.ein-wandermaerchen.de